KUNST DES SÜDLICHEN AUSSTRAHLUNGSGEBIETS 41
Wandlung der menschlichen Gestalt zum Ornament, wovon Abb. 9 einige Proben
gibt. Gewiß würde niemand auf den Gedanken kommen, das rein ornamentale
Muster in Abb. gd aus der Darstellung des Menschen abzuleiten, wenn keine
vermittelnde Formen den Zusammenhang bewiesen. Sicherlich verkennen
Gautier und Lampre die Bedeutung dieses höchst interessanten Prozesses
der fortschreitenden Bändigung der Naturform, wenn sie diesen aus Mangel an
Ernst oder aus Nachlässigkeit erklären; an der Richtigkeit der von ihnen und
Pottier auf gestellten Entwicklungsreihen ist aber nicht zu rütteln. Es kann
zwar, sei es auch unter ganz anderen Verhältnissen, im besonderen bei der Be-
rührung mit einer fremden Kunst, das Ornament zur Bildung phantastischer
Tierformen neigen; aber niemals wächst es sich aus zu einer organischen Tier-
form, einem der Art nach genau bestimmbaren Tier. Wenn aber ein ernsthafter
Forscher wie Carl Schuchhardt bloß dem technisch-materialistischen Dogma
zuliebe die greifbar vor uns liegende Entwicklung umdreht und in völlig un-
annehmbarer Weise diese Tiergestalten aus den geometrischen „textilen“ Mu-
stern herleitet, so ist das ein neuer Beweis für die unheilvolle Wirkung der von
ihm befolgten Methode1.
Was Schuchhardt zu dieser Vergewaltigung der Tatsachen führte, war, ab-
gesehen von dem Versuch, einen weiteren Beleg für die Richtigkeit der be-
sonders von ihm ausgearbeiteten technischen Erklärung des Ornaments zu
finden, das sehr begreifliche Bestreben, ein universal gültiges Gesetz aufzu-
stellen, dem die Entwicklung der ersten Kunstformen sowohl im Norden, wie
auch in den alten Kulturländern des Südostens gehorche. Für das streng geo-
metrische Ornament der nordischen Neolithik kam keine Beziehung zu irgend-
welchen Naturformen in Betracht, also müßten auch die Tiergestalten der ela-
mitischen Gefäßverzierung ein späteres Entwicklungsprodukt sein. Äußerst
lehrreich ist es nun aber zu sehen, wie der fundamentale Gegensatz in der vor-
historischen Kunst en twicklung Nordeuropas und Vorderasien-Ägyptens, einen
Widerhall in der Kunsttheorie gefunden hat. Denn an der Hand der soeben ge-
schilderten Entwicklungserscheinungen und unter Berücksichtigung der uns
schon bekannten Vorkommnisse in der Kunst des Paläolithikums und der
Naturvölker sehen wir nun auch von der orientalischen Vorgeschichtsforschung
die Ansicht vertreten, daß es im Anfang nur eine Darstellung konkreter Gegen-
stände gegeben habe und daraus erst das eigentliche Ornament hervorgegangen
sei2.
Nachdem wir im ersten Kapitel gesehen haben, wie schwach dieser Gedanke
begrifflich fundiert ist, und wie wenig die Tatsachen ihm entsprechen, glaube
ich auf eine erneute Widerlegung verzichten zu dürfen. Schon das eingeritzte
geometrische Ornament, das der Gefäßmalerei zumindest gleichalterig ist, dem
technischen Verfahren nach aber entschieden primitiver, beweist, daß das reine
1. C. Schuchhardt, Die Keramik von Susa. „Der Kunstwanderer“ 1910, Septemberheft.
2. Edm. Pottier in Delegation en Ferse. Memoires, tome XIII. Vgl. auch Capart 1. c.,
der sich in seiner Behandlung der urägyptischen Kunst wiederholt auf Grosses
Untersuchungen über die Naturvölkerkunst beruft!
Wandlung der menschlichen Gestalt zum Ornament, wovon Abb. 9 einige Proben
gibt. Gewiß würde niemand auf den Gedanken kommen, das rein ornamentale
Muster in Abb. gd aus der Darstellung des Menschen abzuleiten, wenn keine
vermittelnde Formen den Zusammenhang bewiesen. Sicherlich verkennen
Gautier und Lampre die Bedeutung dieses höchst interessanten Prozesses
der fortschreitenden Bändigung der Naturform, wenn sie diesen aus Mangel an
Ernst oder aus Nachlässigkeit erklären; an der Richtigkeit der von ihnen und
Pottier auf gestellten Entwicklungsreihen ist aber nicht zu rütteln. Es kann
zwar, sei es auch unter ganz anderen Verhältnissen, im besonderen bei der Be-
rührung mit einer fremden Kunst, das Ornament zur Bildung phantastischer
Tierformen neigen; aber niemals wächst es sich aus zu einer organischen Tier-
form, einem der Art nach genau bestimmbaren Tier. Wenn aber ein ernsthafter
Forscher wie Carl Schuchhardt bloß dem technisch-materialistischen Dogma
zuliebe die greifbar vor uns liegende Entwicklung umdreht und in völlig un-
annehmbarer Weise diese Tiergestalten aus den geometrischen „textilen“ Mu-
stern herleitet, so ist das ein neuer Beweis für die unheilvolle Wirkung der von
ihm befolgten Methode1.
Was Schuchhardt zu dieser Vergewaltigung der Tatsachen führte, war, ab-
gesehen von dem Versuch, einen weiteren Beleg für die Richtigkeit der be-
sonders von ihm ausgearbeiteten technischen Erklärung des Ornaments zu
finden, das sehr begreifliche Bestreben, ein universal gültiges Gesetz aufzu-
stellen, dem die Entwicklung der ersten Kunstformen sowohl im Norden, wie
auch in den alten Kulturländern des Südostens gehorche. Für das streng geo-
metrische Ornament der nordischen Neolithik kam keine Beziehung zu irgend-
welchen Naturformen in Betracht, also müßten auch die Tiergestalten der ela-
mitischen Gefäßverzierung ein späteres Entwicklungsprodukt sein. Äußerst
lehrreich ist es nun aber zu sehen, wie der fundamentale Gegensatz in der vor-
historischen Kunst en twicklung Nordeuropas und Vorderasien-Ägyptens, einen
Widerhall in der Kunsttheorie gefunden hat. Denn an der Hand der soeben ge-
schilderten Entwicklungserscheinungen und unter Berücksichtigung der uns
schon bekannten Vorkommnisse in der Kunst des Paläolithikums und der
Naturvölker sehen wir nun auch von der orientalischen Vorgeschichtsforschung
die Ansicht vertreten, daß es im Anfang nur eine Darstellung konkreter Gegen-
stände gegeben habe und daraus erst das eigentliche Ornament hervorgegangen
sei2.
Nachdem wir im ersten Kapitel gesehen haben, wie schwach dieser Gedanke
begrifflich fundiert ist, und wie wenig die Tatsachen ihm entsprechen, glaube
ich auf eine erneute Widerlegung verzichten zu dürfen. Schon das eingeritzte
geometrische Ornament, das der Gefäßmalerei zumindest gleichalterig ist, dem
technischen Verfahren nach aber entschieden primitiver, beweist, daß das reine
1. C. Schuchhardt, Die Keramik von Susa. „Der Kunstwanderer“ 1910, Septemberheft.
2. Edm. Pottier in Delegation en Ferse. Memoires, tome XIII. Vgl. auch Capart 1. c.,
der sich in seiner Behandlung der urägyptischen Kunst wiederholt auf Grosses
Untersuchungen über die Naturvölkerkunst beruft!