ERKLÄRUNG AUS FREMDER KUNST 113
scharf ausgeprägten, reinen Charakter tragen, daß es völlig unmöglich ist, sie als
DerivatedesäußerstunbeständigenSpiralvolutenstilsder Steinzeit zubetrachten.
Diese hohe Vollendung der nordischen Kreis- und Spiralornamentik dürfte
nun auch der Abhängigkeit von der mykenischen Kunst widersprechen. An sich
wäre eine Ausstrahlung der hoch potenzierten griechisch-mykenischen Kunst
und Kultur nach Norden durchaus denkbar. Wie aber das normale Bild einer
solchen Ausstrahlung aussieht, haben wir bei der Besprechung der Band-
keramik feststellen können, und genau das gleiche Bild wird sich noch zeigen
bei der weit nach Norden sich fortsetzenden Ausstrahlung gewisser Formen der
frühen italischen Eisenzeit oder der spätrömischen Kunst während und nach
der Kaiserzeit: die fremden Formen büßen immer mehr ihren ursprünglichen
Charakter ein, sie werden abgebaut, und was zuletzt bleibenden Bestand in der
nordischen Kunst findet, verrät kaum noch den Zusammenhang mit dem Süden.
Von diesem,nach der Formel a—ab—b verlaufenden, Ausstrahlungs- und Ab-
bauprozeß kann aber in der M. Il-Stufe der Bronzezeit gar keine Rede sein.
Das süddeutsche und nordische Spiralkreisornament zeigt sich von Anfang an
in seiner ganzen Frische und Reinheit und je weiter es sich vom Süden ent-
fernt, desto reicher entfaltet es sich. Außerdem finden sich auf dem Weg nach
Norden nirgends die „Abbauformen“, die nicht nur an das lineare Ornament,
sondern vor allem auch an die reichen naturalistischen Zierformen der mykeni-
schen Kunst anknüpfen müßten, wenn überhaupt eine nennenswerte Ausstrah-
lung bis nach Nordeuropa in Betracht käme. Auch gibt es, in bemerkenswertem
Gegensatz zu dem Auftreten italischer Importe in der späteren nordischen
Bronzezeit, in der M. Il-Stufe keine eingeführten griechischen Arbeiten; aber
auch die süddeutsche Bronzezeitkultur zeigt bis zur 4. Stufe (M. III) keine, den
Gesamtcharakter irgendwie bestimmenden Beziehungen zum Mittelmeer-
gebiet1. Vereinzelte Erscheinungen im Norden, wie das Vorkommen der von
Reinecke erwähnten Glasperlen2, sind für die Erklärung der nordischen Kunst-
entwicklung ohne Bedeutung. Die Lehrjahre der nordischen Bronzezeit waren
eben vorbei; die eigne Industrie zeigt eine zunehmende Selbständigkeit, die
Schmuck- und Gerättypen, die während der ersten Montelius-Stufe noch eine so
überraschende Gleichförmigkeit in Ägypten, Troja, Griechenland, Böhmen auf-
wiesen, weichen jetzt nach den verschiedenen Kulturkreisen immer mehr von
einander ab. Es entstehen selbständige, reicher entwickelte, nordische bzw.
norddeutsche Sonderformen (z. B. beim Beil); es bildet sich auf nordischem
Boden in dieser Zeit die Bügelnadel aus und zwar, wie es scheint, erheblich
früher als in Mittel- und Südeuropa, jedenfalls aber unabhängig von den süd-
lichen Sicherheitsnadeln3. Und endlich erhebt sich die Frage: wenn wirklich
1. P. Reinecke, Zwei Grabfunde der älteren Bronzezeit in Oberbayern. Altbayrische
Monatsschrift 1905, S. 110.
2. Derselbe im Altertümer der heidnischen Vorzeit, V. Jüngere bronzezeitliche Funde
aus Nord- und Süddeutschland.
3. G. Kossinna, Die deutsche Vorgeschichte. Auch Reine cke vertritt diese Ansicht an
mehreren Stellen.
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scharf ausgeprägten, reinen Charakter tragen, daß es völlig unmöglich ist, sie als
DerivatedesäußerstunbeständigenSpiralvolutenstilsder Steinzeit zubetrachten.
Diese hohe Vollendung der nordischen Kreis- und Spiralornamentik dürfte
nun auch der Abhängigkeit von der mykenischen Kunst widersprechen. An sich
wäre eine Ausstrahlung der hoch potenzierten griechisch-mykenischen Kunst
und Kultur nach Norden durchaus denkbar. Wie aber das normale Bild einer
solchen Ausstrahlung aussieht, haben wir bei der Besprechung der Band-
keramik feststellen können, und genau das gleiche Bild wird sich noch zeigen
bei der weit nach Norden sich fortsetzenden Ausstrahlung gewisser Formen der
frühen italischen Eisenzeit oder der spätrömischen Kunst während und nach
der Kaiserzeit: die fremden Formen büßen immer mehr ihren ursprünglichen
Charakter ein, sie werden abgebaut, und was zuletzt bleibenden Bestand in der
nordischen Kunst findet, verrät kaum noch den Zusammenhang mit dem Süden.
Von diesem,nach der Formel a—ab—b verlaufenden, Ausstrahlungs- und Ab-
bauprozeß kann aber in der M. Il-Stufe der Bronzezeit gar keine Rede sein.
Das süddeutsche und nordische Spiralkreisornament zeigt sich von Anfang an
in seiner ganzen Frische und Reinheit und je weiter es sich vom Süden ent-
fernt, desto reicher entfaltet es sich. Außerdem finden sich auf dem Weg nach
Norden nirgends die „Abbauformen“, die nicht nur an das lineare Ornament,
sondern vor allem auch an die reichen naturalistischen Zierformen der mykeni-
schen Kunst anknüpfen müßten, wenn überhaupt eine nennenswerte Ausstrah-
lung bis nach Nordeuropa in Betracht käme. Auch gibt es, in bemerkenswertem
Gegensatz zu dem Auftreten italischer Importe in der späteren nordischen
Bronzezeit, in der M. Il-Stufe keine eingeführten griechischen Arbeiten; aber
auch die süddeutsche Bronzezeitkultur zeigt bis zur 4. Stufe (M. III) keine, den
Gesamtcharakter irgendwie bestimmenden Beziehungen zum Mittelmeer-
gebiet1. Vereinzelte Erscheinungen im Norden, wie das Vorkommen der von
Reinecke erwähnten Glasperlen2, sind für die Erklärung der nordischen Kunst-
entwicklung ohne Bedeutung. Die Lehrjahre der nordischen Bronzezeit waren
eben vorbei; die eigne Industrie zeigt eine zunehmende Selbständigkeit, die
Schmuck- und Gerättypen, die während der ersten Montelius-Stufe noch eine so
überraschende Gleichförmigkeit in Ägypten, Troja, Griechenland, Böhmen auf-
wiesen, weichen jetzt nach den verschiedenen Kulturkreisen immer mehr von
einander ab. Es entstehen selbständige, reicher entwickelte, nordische bzw.
norddeutsche Sonderformen (z. B. beim Beil); es bildet sich auf nordischem
Boden in dieser Zeit die Bügelnadel aus und zwar, wie es scheint, erheblich
früher als in Mittel- und Südeuropa, jedenfalls aber unabhängig von den süd-
lichen Sicherheitsnadeln3. Und endlich erhebt sich die Frage: wenn wirklich
1. P. Reinecke, Zwei Grabfunde der älteren Bronzezeit in Oberbayern. Altbayrische
Monatsschrift 1905, S. 110.
2. Derselbe im Altertümer der heidnischen Vorzeit, V. Jüngere bronzezeitliche Funde
aus Nord- und Süddeutschland.
3. G. Kossinna, Die deutsche Vorgeschichte. Auch Reine cke vertritt diese Ansicht an
mehreren Stellen.
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