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Adama van Scheltema, Frederik
Die altnordische Kunst: Grundprobleme vorhistorischer Kunstentwicklung — Berlin: Mauritius-Verl., 1923

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https://doi.org/10.11588/diglit.62960#0172
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IMMANENTE FORMENTWICKLUNG


Abb. 28. Messer mit Drachenschiffornament aus der späten Bronzezeit, Dänemark.

ständige, aber zumeist einfach gebaute ,,Drachen“ das Wellenmuster ersetzen
(Abb. 29, Taf. XIV, 1, obere Zone).
Zum tieferen Verständnis des nordischen Drachenornaments genügt es aber
nicht, dieses nur von der väterlichen Seite, von den südlichen Formen her zu
betrachten. Denn hat dieses eigentümliche Ornament auch in wesentlichen
Teilen die Statur des Vaters, so ist es doch seiner Natur nach organisch mit den
Mutterformen der älteren Wellenbandornamentik verknüpft. Schon bei der Be-
sprechung jener Formen wurde die Entstehung dieser Blüten oder Tierköpfe
anders gedeutet, indem wir sie aus den freien Enden der Rankenabzweigungen
geradezu hervorwachsen sahen. An sich betrachtet waren diese frei endenden
Verzweigungen der Hauptwelle oder Ranke noch nichts Außerordentliches, sie
unterschieden sich kaum von den Spiralhäkchen, die sich schon in der M. IV-
Stufe an den Strahlenspitzen der zentralen Sternfigur an setzten und sich dann
zu den kräftigen Spiralhaken des reifen Stils entwickelten. Der Unterschied ist
nur, daß diese Verzweigungen, indem sie sich gleichsam ausrollen, die Bewegung
nicht mehr in die Hauptwelle zurückgeleiten, daß der Bewegungsfluß an ihren
freien Enden stockt. Daß sich nun an diesen kritischen Stellen, wo das durch
die Hauptwelle fließende Fluidum sich staut, neue Formen entwickeln, ist nicht
nur durch den Vergleich mit dem pflanzlichen Wachstum, sondern auch vom
rein künstlerisch-ornamentalen Standpunkt durchaus begreiflich: eben weil
diese Endungen „frei“ waren, verlangten sie einen freien Abschluß, und dieser
konnte um so willkürlicher gestaltet werden, als er in seiner absoluten Freiheit
der ornamentalen Gebundenheit der gleichmäßig fortlaufenden Ranken welle
keine Rechnung zu tragen brauchte. Nur so ist es zu verstehen, daß sich
Formenreihen zusammenstellen lassen, die das Entstehen dieser neuen Bil-
dungen als ein innerlich begründetes Wachstum darstellen: in Abb. 25b „ent-
wickeln“ sich die spiraligen Abzweigungen der Form a, in Abb. 26 scheinen sich
Knospen zu bilden, aus denen die in Abb. 25 c oder Taf. XIV, 1 abgebildeten
Formen hervorgehen, die noch kaum an einen Tierkopf, sondern eher an Lippen-
blumen erinnern — es gibt unter den Lippenblütlern sowohl einen „Drachen-
kopf“ wie ein „Drachenmaul“! Endlich finden wir an der gleichen Stelle auch
richtige Tierköpfe mit Auge und sogar einer Zunge im aufgesperrtem Maul
(Bronzebecken v. Neubrandenburg, Mus. Neustrelitz). Ich möchte keineswegs
behaupten, daß die hier geschilderte Formenreihe auch tatsächlich eine Ent-
wicklungsreihe darstellt, aber schon die Möglichkeit, scheinbar alle Wachstums-
 
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