KONVERGENZERSCHEINUNGEN IJI
hinzugefügt, daß Riegl dieser Gefahr auch mit Bezug auf die spätgermanische
Kunst nicht ganz zu entrinnen vermag. Durch diese Gleichsetzung oder Ver-
mischung der späten Stilphasen verschiedener, unabhängig voneinander ver-
laufender und durchaus nicht zeitlich zusammenfallender Entwicklungszyklen
wird Riegl dazu verführt, das „spätrömische“ Kunstwollen über eine Zeit aus-
zudehnen, welche die mögliche Dauer irgendeines Stils bei weitem überschreitet.
Was im besonderen die durchbrochenen Arbeiten betrifft, so spielen diese, von
früheren Beispielen abgesehen, ihre eigentümliche Rolle sowohl in der kelti-
schen und römischen als auch in der germanischen Ornamentik, d. h. sie sind
von der La-Tene-Zeit bis in das achte nachchristliche Jahrhundert zu verfolgen,
also über einen Zeitraum, der nach beiden Seiten weit über den Bereich der
spätrömischen Kunst hinausgeht. Daß Riegl in seine spätrömische Kunst auch
Erscheinungen einbezog, die als das Ergebnis einer fremden, selbständigen Ent-
wicklung zu gelten haben, ist wohl nur daraus zu erklären, daß ein klarer Ein-
blick in das Wesen der autonomen, altnordisch-barbarischen Kunstentwick-
lung zu seiner Zeit kaum möglich war, dann aber auch dadurch, daß das Bild
der gesamteuropäischen Kunstentwicklung während und nach der Kaiserzeit
infolge des höchst bemerkenswerten Konvergierens der verschiedensten natio-
nalen Kunstübungen außerordentlich schwer zu deuten ist. Es scheint, als ob
die gesamte, zuvor völlig heterogene, abendländische Kunst in dieser Zeit, in
der eine neue Kulturepoche vor der Tür steht, bestrebt ist, in ein gemeinsames
Strombett einzulenken. Abgesehen noch von den immer bedeutender werden-
den Einflüssen des Orients, zeigen die späthellenistische, die spätrömische, die
spätkeltische und endlich die spätnordisch-germanische Kunst, so prinzipiell
verschieden ihre Grundlagen auch sein mögen, überraschend gleichgerichtete
Stiltendenzen. Wir werden auf diese Fragen bei der Erklärung der spätgerma-
nischen Ornamentik zurückkommen und dort etwas tiefer auf die Rieglschen
Gedanken eingehen.
Maximale Ausdehnung der Südkultur nach Norden. Ausfall und Wieder-
herstellung der Ausgleichszone, Unter dem Gesichtspunkt der uralten süd-nörd-
lichen Auseinandersetzung betrachtet, bedeutet die politische und kommerzielle
Expansion der römischen Weltmacht während der Kaiserzeit zweierlei. Politisch:
die Einverleibung der klassischen, mitteleuropäischen Ausgleichszone in das Ge-
biet der Südkultur und damit die Ausdehnung der letzteren bis an das nordische
Kerngebiet. Kommerziell: die Überflutung Nordeuropas selber mit den fremden
Kunstformen und technisch überlegenen Zweckformen, welche die antike Kunst-
industrie in fast tausendjähriger Entwicklung ausgebildet hatte. So betrachtet,
war für das germanische Nordeuropa der ersten nachchristlichen Jahrhunderte
die Möglichkeit zur Überwindung der südlichen Einflüsse und Ausbildung
eines eignen Stils genau so ungünstig wie für das keltische Mitteleuropa der
La-Tene-Zeit. Hier liegt ein zweiter Grund für das Stocken der nordisch-orna-
mentalen Kunstentwicklung: diese Kunst mußte nicht nur das neue, schmuck-
feindliche Material, das Eisen, irgendwie bezwingen, sondern sie mußte sich
auch mit den fremden, schon aus Gründen der Zweckmäßigkeit übernommenen
hinzugefügt, daß Riegl dieser Gefahr auch mit Bezug auf die spätgermanische
Kunst nicht ganz zu entrinnen vermag. Durch diese Gleichsetzung oder Ver-
mischung der späten Stilphasen verschiedener, unabhängig voneinander ver-
laufender und durchaus nicht zeitlich zusammenfallender Entwicklungszyklen
wird Riegl dazu verführt, das „spätrömische“ Kunstwollen über eine Zeit aus-
zudehnen, welche die mögliche Dauer irgendeines Stils bei weitem überschreitet.
Was im besonderen die durchbrochenen Arbeiten betrifft, so spielen diese, von
früheren Beispielen abgesehen, ihre eigentümliche Rolle sowohl in der kelti-
schen und römischen als auch in der germanischen Ornamentik, d. h. sie sind
von der La-Tene-Zeit bis in das achte nachchristliche Jahrhundert zu verfolgen,
also über einen Zeitraum, der nach beiden Seiten weit über den Bereich der
spätrömischen Kunst hinausgeht. Daß Riegl in seine spätrömische Kunst auch
Erscheinungen einbezog, die als das Ergebnis einer fremden, selbständigen Ent-
wicklung zu gelten haben, ist wohl nur daraus zu erklären, daß ein klarer Ein-
blick in das Wesen der autonomen, altnordisch-barbarischen Kunstentwick-
lung zu seiner Zeit kaum möglich war, dann aber auch dadurch, daß das Bild
der gesamteuropäischen Kunstentwicklung während und nach der Kaiserzeit
infolge des höchst bemerkenswerten Konvergierens der verschiedensten natio-
nalen Kunstübungen außerordentlich schwer zu deuten ist. Es scheint, als ob
die gesamte, zuvor völlig heterogene, abendländische Kunst in dieser Zeit, in
der eine neue Kulturepoche vor der Tür steht, bestrebt ist, in ein gemeinsames
Strombett einzulenken. Abgesehen noch von den immer bedeutender werden-
den Einflüssen des Orients, zeigen die späthellenistische, die spätrömische, die
spätkeltische und endlich die spätnordisch-germanische Kunst, so prinzipiell
verschieden ihre Grundlagen auch sein mögen, überraschend gleichgerichtete
Stiltendenzen. Wir werden auf diese Fragen bei der Erklärung der spätgerma-
nischen Ornamentik zurückkommen und dort etwas tiefer auf die Rieglschen
Gedanken eingehen.
Maximale Ausdehnung der Südkultur nach Norden. Ausfall und Wieder-
herstellung der Ausgleichszone, Unter dem Gesichtspunkt der uralten süd-nörd-
lichen Auseinandersetzung betrachtet, bedeutet die politische und kommerzielle
Expansion der römischen Weltmacht während der Kaiserzeit zweierlei. Politisch:
die Einverleibung der klassischen, mitteleuropäischen Ausgleichszone in das Ge-
biet der Südkultur und damit die Ausdehnung der letzteren bis an das nordische
Kerngebiet. Kommerziell: die Überflutung Nordeuropas selber mit den fremden
Kunstformen und technisch überlegenen Zweckformen, welche die antike Kunst-
industrie in fast tausendjähriger Entwicklung ausgebildet hatte. So betrachtet,
war für das germanische Nordeuropa der ersten nachchristlichen Jahrhunderte
die Möglichkeit zur Überwindung der südlichen Einflüsse und Ausbildung
eines eignen Stils genau so ungünstig wie für das keltische Mitteleuropa der
La-Tene-Zeit. Hier liegt ein zweiter Grund für das Stocken der nordisch-orna-
mentalen Kunstentwicklung: diese Kunst mußte nicht nur das neue, schmuck-
feindliche Material, das Eisen, irgendwie bezwingen, sondern sie mußte sich
auch mit den fremden, schon aus Gründen der Zweckmäßigkeit übernommenen