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NATÜRLICHER RHYTHMUS
Abb. 4. Nichtornamentale Reihung.
Zeichnung einer Renntierherde auf Vogelknochen aus der Grotte de la Mairie bei Teyjat, Dordogne.
auch da, wo von einem Verfall der naturalistischen Tierdarstellung noch keine
Rede sein kann.
Als nichtornamentaler, natürlicher Rhythmus ist auch die regelmäßige Rei-
hung oft vorzüglich ausgeführter Tierköpfe oder auch ganzer Tiere auf läng-
lichen Knochenstücken zu verstehen, wo schon die gebotene Rücksichtnahme
auf die zur Verfügung stehende Fläche die gereihte Anordnung erzwang. Es
scheint aber möglich, daß gerade bei diesen gereihten Tieren eine ganz andere
Art natürlicher Reihung im Spiele ist, nämlich die getreue Wiedergabe wirk-
licher Tierreihen in der Natur. Wir brauchen nur an das Wort „Gänsemarsch“
zu denken, an den Flug der Kraniche oder Wildenten usw., um zu wissen, daß
die fast mathematisch genaue Reihung von Tieren in der Natur keine Selten-
heit ist, aber auch die in Herden lebenden großen Säuger können das gleiche
Schauspiel bieten. In der physioplastischen Eskimokunst finden sich regelmäßige
Reihen von Renntieren, aus der besten Zeit des diluvialen Naturalismus sind
eingeritzte oder gemalte Pferde-, Bison- und Mammutreihen bekannt. Abb. 4
zeigt die in Knochen geritzte Zeichnung einer Renntierherde, wo das haften ge-
bliebene Bild der natürlichen Reihung trefflich, aber teilweise bis zur geometri-
schen Formel abgekürzt wiedergegeben wird. Diese untere Strichreihe scheint
mir ein höchst interessantes Beispiel eines natürlichenRhythmus;sie könnte
genau so als einfaches Randornament an irgendeinem Gegenstand auftreten
und doch herrscht zwischen diesem natürlich-impressionistischen Rhythmus
und dem angewandt-ornamentalen der denkbar größte Gegensatz.
Das paläolithische Ornament. Schlussfolgerungen. Bisher haben wir nur die
auffallendste Erscheinung der paläolithischen Kunst, die naturalistische Tier-
darstellung und gewisse wirkliche oder vermeintliche Symptome ihrer Er-
starrung inBetracht gezogen. Was aber endgültig dazu veranlaßt, dieErklärung
des geometrischen Ornaments aus der Degeneration dieser figuralen Kunst zu
verwerfen, ist die bemerkenswerte Tatsache, daß es im Bereich der Paläolithik
selber eine reine, hochausgebildete Ornamentik gab, die offenbar nicht das
geringste mit den erwähnten Erstarrungserscheinungen zu tun hat. Bezeich-
nenderweise handelt es sich bei dieser Ornamentik, wie es scheint, immer
um die Verzierung von Geräten, also um eine Gerät Ornamentik, d. h. die geo-
NATÜRLICHER RHYTHMUS
Abb. 4. Nichtornamentale Reihung.
Zeichnung einer Renntierherde auf Vogelknochen aus der Grotte de la Mairie bei Teyjat, Dordogne.
auch da, wo von einem Verfall der naturalistischen Tierdarstellung noch keine
Rede sein kann.
Als nichtornamentaler, natürlicher Rhythmus ist auch die regelmäßige Rei-
hung oft vorzüglich ausgeführter Tierköpfe oder auch ganzer Tiere auf läng-
lichen Knochenstücken zu verstehen, wo schon die gebotene Rücksichtnahme
auf die zur Verfügung stehende Fläche die gereihte Anordnung erzwang. Es
scheint aber möglich, daß gerade bei diesen gereihten Tieren eine ganz andere
Art natürlicher Reihung im Spiele ist, nämlich die getreue Wiedergabe wirk-
licher Tierreihen in der Natur. Wir brauchen nur an das Wort „Gänsemarsch“
zu denken, an den Flug der Kraniche oder Wildenten usw., um zu wissen, daß
die fast mathematisch genaue Reihung von Tieren in der Natur keine Selten-
heit ist, aber auch die in Herden lebenden großen Säuger können das gleiche
Schauspiel bieten. In der physioplastischen Eskimokunst finden sich regelmäßige
Reihen von Renntieren, aus der besten Zeit des diluvialen Naturalismus sind
eingeritzte oder gemalte Pferde-, Bison- und Mammutreihen bekannt. Abb. 4
zeigt die in Knochen geritzte Zeichnung einer Renntierherde, wo das haften ge-
bliebene Bild der natürlichen Reihung trefflich, aber teilweise bis zur geometri-
schen Formel abgekürzt wiedergegeben wird. Diese untere Strichreihe scheint
mir ein höchst interessantes Beispiel eines natürlichenRhythmus;sie könnte
genau so als einfaches Randornament an irgendeinem Gegenstand auftreten
und doch herrscht zwischen diesem natürlich-impressionistischen Rhythmus
und dem angewandt-ornamentalen der denkbar größte Gegensatz.
Das paläolithische Ornament. Schlussfolgerungen. Bisher haben wir nur die
auffallendste Erscheinung der paläolithischen Kunst, die naturalistische Tier-
darstellung und gewisse wirkliche oder vermeintliche Symptome ihrer Er-
starrung inBetracht gezogen. Was aber endgültig dazu veranlaßt, dieErklärung
des geometrischen Ornaments aus der Degeneration dieser figuralen Kunst zu
verwerfen, ist die bemerkenswerte Tatsache, daß es im Bereich der Paläolithik
selber eine reine, hochausgebildete Ornamentik gab, die offenbar nicht das
geringste mit den erwähnten Erstarrungserscheinungen zu tun hat. Bezeich-
nenderweise handelt es sich bei dieser Ornamentik, wie es scheint, immer
um die Verzierung von Geräten, also um eine Gerät Ornamentik, d. h. die geo-