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Krebs, Carl; Königliche Akademie der Künste zu Berlin [Contr.]
Schaffen und Nachschaffen in der Musik: Rede zur Feier des allerhöchsten Geburtstages Seiner Majestät des Kaiser und Königs am 27. Januar 1902 in der öffentlichen Sitzung der Königlichen Akademie der Künste — Berlin: Ernst Siegfried Mittler und Sohn, Königliche Hofbuchhandlung, 1902

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https://doi.org/10.11588/diglit.70862#0008
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der Partitur ein Orchesterwerk in seiner ganzen Farbenpracht
vorstellen will, der muss über eine Kraft der Phantasie gebieten,
wie sie selbst unter den Berufenen nur Auserwählte besitzen
werden. Das Musikwerk muss erklingen, soll es genossen
werden; ist der Klang verrauscht, so ist es selbst vergangen,
bis es wieder erweckt wird.
Der schaffende Musiker braucht also Mittelspersonen
zwischen sich und dem Publikum, und aus der Individualität
dieser Nachschaffenden muss immer etwas in das reproduzierte
Objekt überfliessen. Nur in einem Fall würde ein Komponist
sein Werk ganz frei von fremdgeistigen Beimischungen halten
können: wenn der Spieler eines solistisch brauchbaren Instru-
mentes ein Stück für dies Instrument setzte und selbst vor-
trüge. Sonst finden stets Brechungen der ursprünglichen
Art statt, genau wie beim Lichtstrahl, wenn er in ein anderes
Medium tritt; und je mehr Persönlichkeiten sich an der Re-
produktion beteiligen, um so stärker wird die Brechung sein,
am stärksten also bei der Oper. Deshalb kann ein Musikwerk
in der gleichen sinnlichen Erscheinung nie wiederkehren:
seine Erweckung ist an wechselnde Persönlichkeiten und
wechselnde Stimmungen gebunden, und in dieser Flüchtigkeit
liegt ein Hauptreiz der Musik, liegt aber auch die grösste Ge-
fahr für den Bestand des einzelnen musikalischen Kunstwerkes.
Die erwähnten Verhältnisse: einmal das Fehlen von Natur-
vorbildern, dann die tragische Thatsache, dass der Komponist
sein Werk nicht der Welt lebendig überliefern kann, erklären
so manche eigentümliche Erscheinung, der wir in der Ent-
wickelung der Musik begegnen.
Wir können zu Werken der bildenden Kunst selbst aus
sehr entlegenen Zeiten ganz gut Stellung nehmen, indem wir
 
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