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Wegen näherkommen konnte. Wie es nun geschieht, dafs
im Weltraum ein Stern aufflammt, dessen Licht erst nach
langen Jahren auf der Erde wahrnehmbar wird, so kann es
auch kommen, dafs erst eine spätere Zeit die Bedeutung eines
künstlerischen Genies ganz erfafst und abschätzt; so gewifs
wir heute Joh. Seb. Bachs Wesen und Wirken tiefer ver-
stehen, als das 18. Jahrhundert es vermochte, so gewifs ist es
mir, dafs manche Seiten von Mozarts Künstlerart von uns
Menschen des 20. Jahrhunderts lebhafter empfunden werden,
als von seiner eigenen Zeit so vor allem sein unendlich feines
Gefühl für das Leben der Form und seine gewaltige Kunst
der Charakteristik.
Die Formen der Tonkunst sind unmittelbar aus dem
menschlichen Leben herausgewachsen. Ihre Grundlage, der
Rhythmus, stammt von den Körperbewegungen her, von der
Arbeit oder dem Spiel; zwischen den rhythmischen Pfeilern
wurden dann melodische Bogen geschlagen, und durch Ver-
vielfachung der Periodisierung, durch Gliederung in höheren
Ordnungen erweiterten und komplizierten sich die primitiven
Formen, bis aus ihnen Gebilde wie die vielstimmige Fuge
und der Prachtbau des Symphoniesatzes emporwuchsen.
Alle diese Formen sind Objektivierungen einer Gefühls-
oder Phantasiebewegung des Künstlers, sind also Ausdruck,
oder sind wenigstens Ausdruck gewesen, als sie entstanden;
und wo wir das nicht mehr zu erkennen vermögen, da
fehlen uns nur die Fäden, die zum Urgrund der Ent-
stehung hinleiten. Die musikalischen Formen haben nun mit
den architektonischen die ungemeine Anpassungsfähigkeit und
Schmiegsamkeit gemein, die sie jedem persönlichsten Be-
dürfnis dienstbar werden läfst. Getrost darf man behaupten,
dafs nicht zwei Sonatensätze existieren, die einander völlig
gleich wären. Wer deshalb mit einem gewissen Mitleid von
Wegen näherkommen konnte. Wie es nun geschieht, dafs
im Weltraum ein Stern aufflammt, dessen Licht erst nach
langen Jahren auf der Erde wahrnehmbar wird, so kann es
auch kommen, dafs erst eine spätere Zeit die Bedeutung eines
künstlerischen Genies ganz erfafst und abschätzt; so gewifs
wir heute Joh. Seb. Bachs Wesen und Wirken tiefer ver-
stehen, als das 18. Jahrhundert es vermochte, so gewifs ist es
mir, dafs manche Seiten von Mozarts Künstlerart von uns
Menschen des 20. Jahrhunderts lebhafter empfunden werden,
als von seiner eigenen Zeit so vor allem sein unendlich feines
Gefühl für das Leben der Form und seine gewaltige Kunst
der Charakteristik.
Die Formen der Tonkunst sind unmittelbar aus dem
menschlichen Leben herausgewachsen. Ihre Grundlage, der
Rhythmus, stammt von den Körperbewegungen her, von der
Arbeit oder dem Spiel; zwischen den rhythmischen Pfeilern
wurden dann melodische Bogen geschlagen, und durch Ver-
vielfachung der Periodisierung, durch Gliederung in höheren
Ordnungen erweiterten und komplizierten sich die primitiven
Formen, bis aus ihnen Gebilde wie die vielstimmige Fuge
und der Prachtbau des Symphoniesatzes emporwuchsen.
Alle diese Formen sind Objektivierungen einer Gefühls-
oder Phantasiebewegung des Künstlers, sind also Ausdruck,
oder sind wenigstens Ausdruck gewesen, als sie entstanden;
und wo wir das nicht mehr zu erkennen vermögen, da
fehlen uns nur die Fäden, die zum Urgrund der Ent-
stehung hinleiten. Die musikalischen Formen haben nun mit
den architektonischen die ungemeine Anpassungsfähigkeit und
Schmiegsamkeit gemein, die sie jedem persönlichsten Be-
dürfnis dienstbar werden läfst. Getrost darf man behaupten,
dafs nicht zwei Sonatensätze existieren, die einander völlig
gleich wären. Wer deshalb mit einem gewissen Mitleid von