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Archiv für christliche Kunst: Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins — 14.1896

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Nr. 8
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Schwäbische Kruzifixbilder nebst Kruzifixbetrachtungen, [1]
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70

also nicht länger mit Fng behauptet werden
können, daß erst die Renaissance ange-
fangen habe, das Schöne nicht mehr bloß
ini Ansdruck des Geisteslebens und der
Idee, sondern auch in der sinnenfälligen
Form zu suchen; d§ß sie erst in die Dar-
stellung Christi Wärme und Empfindung
gelegt, oder neben der göttlichen Hoheit
milde Menschlichkeit habe hervorstrahlen
lassen: vielmehr ist der spätesten Gothik
der im Verlaufe des Mittelalters selten
gewagte und fast nie geglückte Wurf ge-
tungen, in einem Werke der Skulptur,
und zwar in demjenigen, welches an den
Bildner die allergrößten Anforderungen
stellt, die zwei entlegensten Dinge ver-
einigt zu haben: die plastische Schön-
heit, die mittelst des Auges die Seele
ergreift und den Widerschein eines G e-
dankens, der sie weit hinaus über das
Stoffliche der Darstellung entrückt — die
naturtreue Wiedergabe der äußern Be-
gebenheit zugleich mit dem Ausdruck innerer
Belebung in den Gesichtszügen.

Diese Meisterdarstellungen des Gekreu-
zigten, in welchen geistige Realität und
materielle Ausführung sich die Wage halten,
keusche Ehrfurcht und feinstes Kunstver-
siändniß einander in die Hände gearbeitet
haben, sind Höhepunkte der Kunst und
der Andacht zugleich. Wer vor einer der-
selben betrachtend kniet, wird sich durch
die süßesten Einflüsse znm Herzen aller
Herzen hingezogen fühlen und nicht bloß
eine Thräne unfruchtbarer Empfindsamkeit,
sondern etwas tiefer Gründendes, weniger
Flüchtiges: neu erweckte Gesinnungen des
Glaubens und der Anbetung, der Rene,
der Liebe, des Opfersinnes mit sich von
dannen nehmen. Regnavit a ligno Deus !
,,Das Zeichen der schwermüthigsten Oede
und Einsamkeit ist durch den heiligen Leib
des Gottmenschen, der an ihm gehangen,
zu einer mit unwiderstehlicher Anziehungs-
kraft ans Tausende unb aber Tausende
wirkenden Stätte der Lieblichkeit, des
Heiles und des Lebens geworden. Statt
düsterer Trauer strahlt Freude und Wonne
von dem widrigen harten und eckigen
Holzgerüste, das vom Fürsten dieser Welt
als Galgen zugerichtet worden, während
der Fürst des Lebens durch sein Bluten
und Sterben es zum beseligenden Opfer-
altar des neuen Bundes weihte." Wenn

Zöckler mit diesen schönen Worten den
wunderbaren Einfluß schildert, den Christus
seiner Voraussage gemäß vom Kreuz herab
fort und fort ans die Menschheit ansübt,
so hat er damit, ohne es zu wissen, den
Eindruck beschrieben, den jede nur halb-
wegs empfängliche Seele von diesen un-
nachahmlichen göttlichen Schmerzenöbildern
empfängt. „Ich stehe nicht an zu behaup-
ten, daß nebst Fiesole unsere schwäbische
Schule den schönsten Typus des leidenden
und sterbenden Heilandes geschaffen hat,"")
nur nicht in der lieblich gemüthvollen,
sondern in fesselnd hochtragischer Auffas-
snng, welche dem plastischen Kunstwerke
besonders angemessen ist.

Bei dieser Sachlage ist es unbegreiflich,
daß Schriftsteller, wie der eben belobte
Zöckler, dem Mittelalter und namentlich dem
Spätmittelalter die rechte Werthschätzung
des Verdienstes Christi, die lebendige An-
eignung seines Erlösungstodes und das
Dnrchdrungensein von ihm absprechen
mögen, lind diese Unbegreiflichkeit wächst,
wenn wir bedenken, wie reich an tief
empfundenen Kruzisixbildern, wenn
auch dem übrigen Kunstwerthe nach ver-
schieden, gerade unsere engere Heimath in
der Zeit vor der traurigen Bilderstürmerei
gewesen sein imtjj.18) Gibt man zu, daß
künstlerische Gestaltungskraft den höchsten
Gegenständen nur dann gerecht werden
kann, wenn sie von innerer Ueberzengung
getragen wird, daß somit solche Meister-
werke, ehe sie geschnitzt werden, erst ge-
lebt sein wollen — und das geben nun-
mehr sogar Materialisten nach der Art
des französischen Kritikers Taine zu")
— dann sind diese Darstellungen eben-
soviele beredte Zeugnisse für das tief-
gläubige Christengemüth unserer Meister.
Wer einen solchen G e g e n st a n d
mit einer Wahrheit, Schönheit
u ud Größe so p h r a s e n l o s vor
Augen stellen kann, daß der In-
halt n a ch I a h r h n n d e r t e n n o ch e r-
g r e i f t u n d e r h e b t, d e r k a n n r u h i g
auf derartige Vorwürfe s ch w e i-
g e n. Dieser Satz eines andern ganz
unbefangenen Kunstschriftstellers ist hier
vollkommen an seinem Platze.

Anmer kun g e n.

st Vgl. ihre Entwicklung bei Emeric David,
Recherches sur l'art statuaire p. 141 seqq.
 
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