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die Apokalypse sagt, sechs, sondern der
Natur entsprechend nur zwei Flügel.
Das Maßvolle und Feinfühlige der alt-
christlichen Kunst, welche bei Schilderung
biblischer Texte nicht Versuche wagt, die
unmöglich von künstlerischem Erfolge ge-
krönt sein können, wie sich hier zeigt,
scheint in den Mosaiken von S. Vitale
in Ravenna nicht hervorzutreten. So sehr
Ravennas Kunstwerke wesentlich römisch
sind, so tritt doch in der prachtvollsten
Kirche der morgenländische Einfluß in der
reichlichen, beinahe überniäßigen Fülle von
Symbolen zu Tage, welche daher nicht
selten, so auch in den Evangelistensym-
bolen etwas Geschmackloses an sich hat.
Die Kirche des hl. Vitalis (546 bis
556 vollendet) hat noch im Chore seine
Mosaikausstattung') erhalten, während
Kuppel wie Gewölbe ihren Schmuck ver-
loren. Die ganze Dekoration des Chores
bedeutet die Verherrlichung des geopferten
Gotteslannnes. Das Gewölbe stellt das
Lamm dar, um das sich die Thierwelt
mit den Engeln sammelt. Ans den Wän-
den erscheint die Menschenwelt. Die Evan-
gelisten und ihre Symbole, von denen drei
Thiere sind, waren geeignet, den Ueber-
gang von der im Gewölbe dargestellten
Thierwelt zur Menschenwelt zu bilden.
Hier sind die realen Personen und deren
Symbole in einer Darstellung vereinigt.
Die Evangelisten sitzen mit aufgeschlagenen
Büchern in felsigen Landschaften; in ihren
Büchern liest inan secundum Marcum
it. s. w. Zu ihren Füßen entspringen Wasser-
qnellen, Bilder der Paradiesesflüsse, aus
denen allerlei Vögel trinken.
Vom 6. Jahrhundert an sind die Evan-
gelistensymbole häufig um ein Mono-
gramm 3), oder ein Brustbild °), oder das
Kreuz Christi gruppirt 4). Ueberhaupt
scheinen in späterer Zeit einzig die Sym-
bole verwendet worden zu sein, wie die
’) Garrucci tav. 258 f.
2) So i» den Mosaiken der früheren erz-
bischöflichen Kapelle in Ravenna. Vergl. Gar-
rucci tav. 222 f., Schnaase, Gesch. der bildenden
Künste Hl 205.
8) In S. Apollinare in Classe: Garrucci tav.
265 sf. 275.
4) In der Kirche der Heiligen Nazarius und
Celsus. Beissel 129.
Mosaiken von S. Venanzio in Ravenna ’)
und S. Marco in Rom * 2) zeigen.
Daß auch in der Kleinkunst die Evan-
gelisten und ihre Symbole Verwendung
fanden, dafür zeugen das Titelblatt des
Evangeliariums des Lod. R05sanensis 3)
(saec. V), welches die Brustbilder der
Evangelisten in Medaillons darstellt, ein
Deckelbild eines Evangeliarinins zu Mün-
chen und in dem Mnseilin zu Ravenna4)
(saec. V).
Kraus stellt in seiner RE. I 456 alle
Stellen der Kirchenschriftsteller zusammen,
in denen die vier Thiergestalten (Ezech. t,
4 f., Apokal. 4, 6 f.) auf die Evangelisten
bezogen werden. „Die Deutung war frei-
lich nicht immer die gleiche." Jrenäus
und Augustin, welchem Beda und Primas
folgen, weichen von der gewöhnlichen Auf-
fassung ab, welche sich bei Hieronymus,
Gregor dem Großen, Sedulius, Juvencus
und Alcuin findet. Nach letzterer hat
Matthäus das Symbol des Menschen oder
Engels; denn beginnt mit der mensch-
lichen Abstammung Christi, Markus den
Löwen, weil er mit Johannes, der Stimme
des Rufenden in der Wüste, anhebt, Lukas
ein Rind als Symbol des Opfers des
Priesters Zacharias, das der Evangelist zu
Beginn seines Evangeliums schildert; Jo-
hannes den Adler, der sich in erhabenem
Fluge über die Erde zur Betrachtung des
ewigen Vaters emporschwingt.
Man sollte nach dieser beinahe beispiel-
losen Tradition in Bezug ans die Bedeu-
tung der Symbole — denn nur in der
Zueignung der einzelnen Symbole an die
Evangelisten besteht die Verschiedenheit der
Anffassnng der Väter — glauben, die
Symbole wären den Evangelisten wegen
des Anfangs ihrer Evangelien gegeben
worden; allein einige bis jetzt noch nir-
gends in diesem Zusammenhang' citirte
Stellen des hl. Ambrosius erkennen in
den vier Gesichtern bei Ezechiel die vier
Kardinaltugenden: Menschengesicht — Ao-
*) Aus beit Jahren 640—642. Beissel 197.
2) Beissel 129. Kraus, Gesch. der christlichen
Kunst I 426.
8) Gebhardt und Harnack: Evangeliarium des
15od. Rossan. (Leipzig 1880.) Taf. 18.
4) Kraus, RE. der christl. Alterthümer I 459.
Siehe daselbst auch über Verwerthung der Sym-
bole in Brustkreuzen, Elfenbeinarbeiten, Dal-
matiken. Vergl. Beissel 245. 279.
die Apokalypse sagt, sechs, sondern der
Natur entsprechend nur zwei Flügel.
Das Maßvolle und Feinfühlige der alt-
christlichen Kunst, welche bei Schilderung
biblischer Texte nicht Versuche wagt, die
unmöglich von künstlerischem Erfolge ge-
krönt sein können, wie sich hier zeigt,
scheint in den Mosaiken von S. Vitale
in Ravenna nicht hervorzutreten. So sehr
Ravennas Kunstwerke wesentlich römisch
sind, so tritt doch in der prachtvollsten
Kirche der morgenländische Einfluß in der
reichlichen, beinahe überniäßigen Fülle von
Symbolen zu Tage, welche daher nicht
selten, so auch in den Evangelistensym-
bolen etwas Geschmackloses an sich hat.
Die Kirche des hl. Vitalis (546 bis
556 vollendet) hat noch im Chore seine
Mosaikausstattung') erhalten, während
Kuppel wie Gewölbe ihren Schmuck ver-
loren. Die ganze Dekoration des Chores
bedeutet die Verherrlichung des geopferten
Gotteslannnes. Das Gewölbe stellt das
Lamm dar, um das sich die Thierwelt
mit den Engeln sammelt. Ans den Wän-
den erscheint die Menschenwelt. Die Evan-
gelisten und ihre Symbole, von denen drei
Thiere sind, waren geeignet, den Ueber-
gang von der im Gewölbe dargestellten
Thierwelt zur Menschenwelt zu bilden.
Hier sind die realen Personen und deren
Symbole in einer Darstellung vereinigt.
Die Evangelisten sitzen mit aufgeschlagenen
Büchern in felsigen Landschaften; in ihren
Büchern liest inan secundum Marcum
it. s. w. Zu ihren Füßen entspringen Wasser-
qnellen, Bilder der Paradiesesflüsse, aus
denen allerlei Vögel trinken.
Vom 6. Jahrhundert an sind die Evan-
gelistensymbole häufig um ein Mono-
gramm 3), oder ein Brustbild °), oder das
Kreuz Christi gruppirt 4). Ueberhaupt
scheinen in späterer Zeit einzig die Sym-
bole verwendet worden zu sein, wie die
’) Garrucci tav. 258 f.
2) So i» den Mosaiken der früheren erz-
bischöflichen Kapelle in Ravenna. Vergl. Gar-
rucci tav. 222 f., Schnaase, Gesch. der bildenden
Künste Hl 205.
8) In S. Apollinare in Classe: Garrucci tav.
265 sf. 275.
4) In der Kirche der Heiligen Nazarius und
Celsus. Beissel 129.
Mosaiken von S. Venanzio in Ravenna ’)
und S. Marco in Rom * 2) zeigen.
Daß auch in der Kleinkunst die Evan-
gelisten und ihre Symbole Verwendung
fanden, dafür zeugen das Titelblatt des
Evangeliariums des Lod. R05sanensis 3)
(saec. V), welches die Brustbilder der
Evangelisten in Medaillons darstellt, ein
Deckelbild eines Evangeliarinins zu Mün-
chen und in dem Mnseilin zu Ravenna4)
(saec. V).
Kraus stellt in seiner RE. I 456 alle
Stellen der Kirchenschriftsteller zusammen,
in denen die vier Thiergestalten (Ezech. t,
4 f., Apokal. 4, 6 f.) auf die Evangelisten
bezogen werden. „Die Deutung war frei-
lich nicht immer die gleiche." Jrenäus
und Augustin, welchem Beda und Primas
folgen, weichen von der gewöhnlichen Auf-
fassung ab, welche sich bei Hieronymus,
Gregor dem Großen, Sedulius, Juvencus
und Alcuin findet. Nach letzterer hat
Matthäus das Symbol des Menschen oder
Engels; denn beginnt mit der mensch-
lichen Abstammung Christi, Markus den
Löwen, weil er mit Johannes, der Stimme
des Rufenden in der Wüste, anhebt, Lukas
ein Rind als Symbol des Opfers des
Priesters Zacharias, das der Evangelist zu
Beginn seines Evangeliums schildert; Jo-
hannes den Adler, der sich in erhabenem
Fluge über die Erde zur Betrachtung des
ewigen Vaters emporschwingt.
Man sollte nach dieser beinahe beispiel-
losen Tradition in Bezug ans die Bedeu-
tung der Symbole — denn nur in der
Zueignung der einzelnen Symbole an die
Evangelisten besteht die Verschiedenheit der
Anffassnng der Väter — glauben, die
Symbole wären den Evangelisten wegen
des Anfangs ihrer Evangelien gegeben
worden; allein einige bis jetzt noch nir-
gends in diesem Zusammenhang' citirte
Stellen des hl. Ambrosius erkennen in
den vier Gesichtern bei Ezechiel die vier
Kardinaltugenden: Menschengesicht — Ao-
*) Aus beit Jahren 640—642. Beissel 197.
2) Beissel 129. Kraus, Gesch. der christlichen
Kunst I 426.
8) Gebhardt und Harnack: Evangeliarium des
15od. Rossan. (Leipzig 1880.) Taf. 18.
4) Kraus, RE. der christl. Alterthümer I 459.
Siehe daselbst auch über Verwerthung der Sym-
bole in Brustkreuzen, Elfenbeinarbeiten, Dal-
matiken. Vergl. Beissel 245. 279.