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Allgemeine Kunst-Chronik.
Ich rieb^die blöden Augen mir —
Und sieh' — ich ruht'
Auf einer Rosenbank
Am Postament
Des hohen Götterbildes.
Wie stand sie starr vor mir.
War sie's, dieselbe noch,
Die mich im Traum bezwang?
0, schönes Götterweib!
Ein Rosenschimmer lag
Auf ihrem Körper,
Aurora's Wiederschein...
Von ferne klang
Die Glocke sanft und fromm;
Sie rief die Christenlieit
Zum Frühgebet.
Auch mich — und es erschien
Im Geiste mir
Ans Kreuz geschlagen
Jesus Christus...
Lispelnd hob
Die Hände ich empor —
Flehte zum Christengott,
Dem dorngekrönten
Gott der Schmerzen.
Fleht' ich um ew'ge Freude,
Schönheitsglanz und Lust?...
Ich weiß es nicht —
Die Lippe sprach
Zerriss'ne Worte...
Schönheit, Weh und Leid,
Vergänglichkeit —
Ein sonderbar Gebet — doch wahr!
Und längst schon war
Die Sonne hoch gestiegen
Den Tag empor,
Und fort noch klang
Es süß in mir:
Venus von Melos!...
E. A. Rainmar.
Buchbesprechungen,
„Franzeska von Rimini." Novelle von Ernst von
Wildenbruch.'(Berlin, Freund & Jeckel.) Den Grund-
zug des Schriftstellers Wildenbruch bezeichnen wir am
kürzesten und schärfsten als vergröbernde Anempfindung,
wobei ich nicht leugnen will, dass, wie bei allen Ver-
suchen, das vielfach Verschlungene und sich Wider-
sprechende einer Persönlichkeit in eine Formel zu zwingen,
auch hier eine gewisse Einseitigkeit mit unterläuft. An-
empfindung in den verschiedensten Graden, von dem in
der Kunst allgemein anerkannten und gebilligten an bis
zu jenem vorgeschrittenen, der auch auf den mensch-
lichen Charakter des Künstlers sein Licht wirft, lässt
sich unschwer in all seinen Schriften nachweisen.
Wenn wir Novellentitel lesen, wie „Die Danaide", „Brun-
hild", „Franzeska von Rimini", und erfahren, dass es
sich.überall um Vorgänge in der heutigen Welt handelt,
so haben wir diese Anempfindung in erster, naivster
und unanstößigster Form. Auch dass seine Dramen
zumeist historisch gegebene Stoffe behandeln, ist hier
nicht außeracht zu lassen. Einen Schritt weiter geht er
dann in einem Stück, wie „Die Haubenlerche", wo er
soziale und naturalistische Theorien auf seine Art ver-
arbeitet; solche Versuche stellen ihn in die gleiche Reihe
mit dem eleganten und schwächlichen Salonnaturalisten
Ludwig Fulda. Am wenigsten wird man sich in seine
neuesten Werke finden können, in den „Generalfeldoberst",
worin er dem gestürzten Staatsmanne noch den letzten
Fußtritt versetzt, oder in die anderen, wodurch er Arbeiter-
gesetzgebung und andere politische. Vorgänge zu unter-
stützen sucht; aber auch in ihnen liegt einzig und allein,
was sein Wesen beherrscht, und wogegen er nicht kämpfen
kann: vergröbernde Anempfindung. So erkläre ich mir
Wildenbruch's Schriftstellerei aus Wildenbruch's Anlage,
aus seinem ungeschickten, subalternen, aber immer ehr-
lichen Denken und Empfinden; darin liegen auch bereits,
wenn nicht die ganze Kritik, wenigstens die wesentlich-
sten Anhaltspunkte zur Kritik der „Franzeska von Rimini".
Unbestreitbar ist niemand pietätloser als ein „Idealist",
wenn er gegebene Stoffe und Motive behandelt und ver-
wandelt. So hat sich auch dem Erneuerer der „Franzeska
von Rimini" der alte poetische Stoff in nicht gerade ent-
sprechende Formen verkehrt. Diese modernen Menschen
stehen unserem Fühlen weit ferner als die mittelalterlichen.
Die Darstellung ist landesüblich, unanschaulich. Sätze wie
„Schultern von tadelloser Rundung blickten aus dem
ausgeschnittenen Ballkleide hervor, und ihr Haupt war
von prachtvollem, aschblondem Haare umgeben" sollten
einem guten Schriftsteller nicht mehr unterkommen.
F. M. F.
Goethe als Kabbalist in der Fausttragödie. Von
F. A. Louvier. (Berlin, Bibliographisches Bureau.) Zu
den seltsamsten Ausgeburten des Strebens, die Rätsel, die
Goethe in sein Lebenswerk so reichlich eingestreut hat,
zu lösen, gehören die Bücher von F. A. Louvier. Louvier
geht von der Ansicht aus, dass „Faust" ein „Geheimbuch"
sei, in dem man keinen Satz, kein Wort beinahe wörtlich zu
nehmen habe. Ihm bedeutet Faust selbst den Verstand, Me-
phistopheles die Finsternis, Valentin den gesunden Menschen-
verstand, die „Mütter" die „Formen, d. h. ein Kant'sches
Nichts", Homunculus die Idee des Faustwerks, Helena
die Kunst und die Hexe die jüdische Exegese. Die Wege
aufzudecken, auf denen der Verfasser zu diesen absonder-
lichen Meinungen gelangt, hieße, den Irrwegen und Seiten-
sprüngen eines ursprünglich scharfen, aber von einer fixen
Idee rettungslos besessenen Verstandes nachgehen. Dass
sich auch die eine oder andere beachtenswerte Bemerkung
eingestreut findet, müssen wir wol erwähnen; schade, dass
sie so unter all dem Wust vergraben sind, dass sich kaum
ein Forscher die Mühe nehmen wird, ihnen nachzuspüren.
Die Beurtheilungen eines Kuno Fischer, L. Geiger u. A.,
an denen sich Louvier so sehr stößt, sind uns mensch-
lich nur zu begreiflich und im Großen und Ganzen jeden-
falls gerechtfertigt. N.
„Goethe ein Sozialist?!" Von Aug. Mühl-
hausen. (Leipzig, Verlag von Otto Wigand, 1892.) Der
Verfasser leitet seine Schrift wie folgt ein: „Dass man
da viel finden kann, wo viel ist, das weiß doch jeder. So
darf man sich nicht wundern, dass in den Werken unserer
Großen, den Schatzhäusern der Reichen an Geist wieder
Allgemeine Kunst-Chronik.
Ich rieb^die blöden Augen mir —
Und sieh' — ich ruht'
Auf einer Rosenbank
Am Postament
Des hohen Götterbildes.
Wie stand sie starr vor mir.
War sie's, dieselbe noch,
Die mich im Traum bezwang?
0, schönes Götterweib!
Ein Rosenschimmer lag
Auf ihrem Körper,
Aurora's Wiederschein...
Von ferne klang
Die Glocke sanft und fromm;
Sie rief die Christenlieit
Zum Frühgebet.
Auch mich — und es erschien
Im Geiste mir
Ans Kreuz geschlagen
Jesus Christus...
Lispelnd hob
Die Hände ich empor —
Flehte zum Christengott,
Dem dorngekrönten
Gott der Schmerzen.
Fleht' ich um ew'ge Freude,
Schönheitsglanz und Lust?...
Ich weiß es nicht —
Die Lippe sprach
Zerriss'ne Worte...
Schönheit, Weh und Leid,
Vergänglichkeit —
Ein sonderbar Gebet — doch wahr!
Und längst schon war
Die Sonne hoch gestiegen
Den Tag empor,
Und fort noch klang
Es süß in mir:
Venus von Melos!...
E. A. Rainmar.
Buchbesprechungen,
„Franzeska von Rimini." Novelle von Ernst von
Wildenbruch.'(Berlin, Freund & Jeckel.) Den Grund-
zug des Schriftstellers Wildenbruch bezeichnen wir am
kürzesten und schärfsten als vergröbernde Anempfindung,
wobei ich nicht leugnen will, dass, wie bei allen Ver-
suchen, das vielfach Verschlungene und sich Wider-
sprechende einer Persönlichkeit in eine Formel zu zwingen,
auch hier eine gewisse Einseitigkeit mit unterläuft. An-
empfindung in den verschiedensten Graden, von dem in
der Kunst allgemein anerkannten und gebilligten an bis
zu jenem vorgeschrittenen, der auch auf den mensch-
lichen Charakter des Künstlers sein Licht wirft, lässt
sich unschwer in all seinen Schriften nachweisen.
Wenn wir Novellentitel lesen, wie „Die Danaide", „Brun-
hild", „Franzeska von Rimini", und erfahren, dass es
sich.überall um Vorgänge in der heutigen Welt handelt,
so haben wir diese Anempfindung in erster, naivster
und unanstößigster Form. Auch dass seine Dramen
zumeist historisch gegebene Stoffe behandeln, ist hier
nicht außeracht zu lassen. Einen Schritt weiter geht er
dann in einem Stück, wie „Die Haubenlerche", wo er
soziale und naturalistische Theorien auf seine Art ver-
arbeitet; solche Versuche stellen ihn in die gleiche Reihe
mit dem eleganten und schwächlichen Salonnaturalisten
Ludwig Fulda. Am wenigsten wird man sich in seine
neuesten Werke finden können, in den „Generalfeldoberst",
worin er dem gestürzten Staatsmanne noch den letzten
Fußtritt versetzt, oder in die anderen, wodurch er Arbeiter-
gesetzgebung und andere politische. Vorgänge zu unter-
stützen sucht; aber auch in ihnen liegt einzig und allein,
was sein Wesen beherrscht, und wogegen er nicht kämpfen
kann: vergröbernde Anempfindung. So erkläre ich mir
Wildenbruch's Schriftstellerei aus Wildenbruch's Anlage,
aus seinem ungeschickten, subalternen, aber immer ehr-
lichen Denken und Empfinden; darin liegen auch bereits,
wenn nicht die ganze Kritik, wenigstens die wesentlich-
sten Anhaltspunkte zur Kritik der „Franzeska von Rimini".
Unbestreitbar ist niemand pietätloser als ein „Idealist",
wenn er gegebene Stoffe und Motive behandelt und ver-
wandelt. So hat sich auch dem Erneuerer der „Franzeska
von Rimini" der alte poetische Stoff in nicht gerade ent-
sprechende Formen verkehrt. Diese modernen Menschen
stehen unserem Fühlen weit ferner als die mittelalterlichen.
Die Darstellung ist landesüblich, unanschaulich. Sätze wie
„Schultern von tadelloser Rundung blickten aus dem
ausgeschnittenen Ballkleide hervor, und ihr Haupt war
von prachtvollem, aschblondem Haare umgeben" sollten
einem guten Schriftsteller nicht mehr unterkommen.
F. M. F.
Goethe als Kabbalist in der Fausttragödie. Von
F. A. Louvier. (Berlin, Bibliographisches Bureau.) Zu
den seltsamsten Ausgeburten des Strebens, die Rätsel, die
Goethe in sein Lebenswerk so reichlich eingestreut hat,
zu lösen, gehören die Bücher von F. A. Louvier. Louvier
geht von der Ansicht aus, dass „Faust" ein „Geheimbuch"
sei, in dem man keinen Satz, kein Wort beinahe wörtlich zu
nehmen habe. Ihm bedeutet Faust selbst den Verstand, Me-
phistopheles die Finsternis, Valentin den gesunden Menschen-
verstand, die „Mütter" die „Formen, d. h. ein Kant'sches
Nichts", Homunculus die Idee des Faustwerks, Helena
die Kunst und die Hexe die jüdische Exegese. Die Wege
aufzudecken, auf denen der Verfasser zu diesen absonder-
lichen Meinungen gelangt, hieße, den Irrwegen und Seiten-
sprüngen eines ursprünglich scharfen, aber von einer fixen
Idee rettungslos besessenen Verstandes nachgehen. Dass
sich auch die eine oder andere beachtenswerte Bemerkung
eingestreut findet, müssen wir wol erwähnen; schade, dass
sie so unter all dem Wust vergraben sind, dass sich kaum
ein Forscher die Mühe nehmen wird, ihnen nachzuspüren.
Die Beurtheilungen eines Kuno Fischer, L. Geiger u. A.,
an denen sich Louvier so sehr stößt, sind uns mensch-
lich nur zu begreiflich und im Großen und Ganzen jeden-
falls gerechtfertigt. N.
„Goethe ein Sozialist?!" Von Aug. Mühl-
hausen. (Leipzig, Verlag von Otto Wigand, 1892.) Der
Verfasser leitet seine Schrift wie folgt ein: „Dass man
da viel finden kann, wo viel ist, das weiß doch jeder. So
darf man sich nicht wundern, dass in den Werken unserer
Großen, den Schatzhäusern der Reichen an Geist wieder