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Gottfried v. Lücken
Die Gebundenheit, die alle vorangehende orientalische und die früheste
griechische Kunst beherrscht hatte, hört auf. Starre Einseitigkeit war
der Charakter aller früheren Gestaltung gewesen. Die Malerei hatte an
der Fläche, die Plastik am Block gehangen i). Jetzt beginnt man den
Raum und die Bewegung darzustellen, ln freier Körperlichkeit und
Bewegung entfalten sich die Figuren der Malerei wie der Plastik. Die
Gestaltungsweise jeder Kunst wird eine andere; und damit verschiebt
sich das gegenseitige Verhältnis vollständig. Es bildet sich jetzt die
Stellung der Künste zueinander heraus, die für die klassische Epoche
maßgebend war und die Grundlage für alle spätere Entwicklung bildet.
A. Die korinthische und ionische Vasenmalerei.
1. Die korinthische Vasenmalerei.
Zur gleichen Zeit, in der sich in Griechenland die Vasenmalerei von
der Herrschaft der orientalischen Tierfriese zu befreien beginnt und der
Wiedergabe des Menschen immer größeren Raum gewährt, sehen wir in
der Plastik eine ganz neue Freude an der menschlichen Gestalt erwachen.
Bis dahin hatte man die Götterbilder aus Holz gebildet, und was uns
sonst aus dieser Zeit an Freistatuen erhalten ist, reicht kaum über das
Maß dessen hinaus, was die Prähistorie auch in anderen Ländern aus
der Eisenzeit kennt. Jetzt beginnt man überall in Griechenland und
auf den Inseln als Götterbilder, Weihgeschenke und zur Erinnerung an
Verstorbene überlebensgroße Menschenbilder aus Stein zu formen ^). ln
den verschiedenen Gegenden Griechenlands bilden sich Bildhauerschulen
mit von einander verschiedenen Charakteren. Ein reiches Kunstleben
entwickelt sich, und es ist interessant zu sehen, bis zu welchem Grade
die einzelnen Kunstkreise, die wir aus der Vasenmalerei kennen, in der
Formengebung denen entsprechen, die wir in der Plastik finden. Eine
solche Betrachtung wird von der Vasenmalerei auszugehen haben, denn
während wir in ihr vom frühgeometrischen Stil an die verschiedensten
Ο Eine Ausnahme hiervon macht die kretisch-mykenische Kunst, die in
der Wiedergabe von Raum und Bewegung Probieme aufgreift, die erst Jahr-
hunderte nach ihr wieder aufgenommen werden (vgl. Alois Riegl, Osterr. Jahresh.
!X 1906, 1).
2) Über ägyptischen Einfluß s. unten S. 124 Anm. 3.
Gottfried v. Lücken
Die Gebundenheit, die alle vorangehende orientalische und die früheste
griechische Kunst beherrscht hatte, hört auf. Starre Einseitigkeit war
der Charakter aller früheren Gestaltung gewesen. Die Malerei hatte an
der Fläche, die Plastik am Block gehangen i). Jetzt beginnt man den
Raum und die Bewegung darzustellen, ln freier Körperlichkeit und
Bewegung entfalten sich die Figuren der Malerei wie der Plastik. Die
Gestaltungsweise jeder Kunst wird eine andere; und damit verschiebt
sich das gegenseitige Verhältnis vollständig. Es bildet sich jetzt die
Stellung der Künste zueinander heraus, die für die klassische Epoche
maßgebend war und die Grundlage für alle spätere Entwicklung bildet.
A. Die korinthische und ionische Vasenmalerei.
1. Die korinthische Vasenmalerei.
Zur gleichen Zeit, in der sich in Griechenland die Vasenmalerei von
der Herrschaft der orientalischen Tierfriese zu befreien beginnt und der
Wiedergabe des Menschen immer größeren Raum gewährt, sehen wir in
der Plastik eine ganz neue Freude an der menschlichen Gestalt erwachen.
Bis dahin hatte man die Götterbilder aus Holz gebildet, und was uns
sonst aus dieser Zeit an Freistatuen erhalten ist, reicht kaum über das
Maß dessen hinaus, was die Prähistorie auch in anderen Ländern aus
der Eisenzeit kennt. Jetzt beginnt man überall in Griechenland und
auf den Inseln als Götterbilder, Weihgeschenke und zur Erinnerung an
Verstorbene überlebensgroße Menschenbilder aus Stein zu formen ^). ln
den verschiedenen Gegenden Griechenlands bilden sich Bildhauerschulen
mit von einander verschiedenen Charakteren. Ein reiches Kunstleben
entwickelt sich, und es ist interessant zu sehen, bis zu welchem Grade
die einzelnen Kunstkreise, die wir aus der Vasenmalerei kennen, in der
Formengebung denen entsprechen, die wir in der Plastik finden. Eine
solche Betrachtung wird von der Vasenmalerei auszugehen haben, denn
während wir in ihr vom frühgeometrischen Stil an die verschiedensten
Ο Eine Ausnahme hiervon macht die kretisch-mykenische Kunst, die in
der Wiedergabe von Raum und Bewegung Probieme aufgreift, die erst Jahr-
hunderte nach ihr wieder aufgenommen werden (vgl. Alois Riegl, Osterr. Jahresh.
!X 1906, 1).
2) Über ägyptischen Einfluß s. unten S. 124 Anm. 3.