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Sündenbock.
sieben Jahre alt geworden ist, so findet die Ceremonie statt, welche
man den „Teufel austreiben" nennt. Der Vater macht einen Stroh-
drachen, welcher den bösen Geist vorstellen soll, besteckt ihn mit
fünf verschiedenfarbigen Fahnen und lässt ihn in der Wüste steigen.
Wie der Sündenbock soll der Drache alles Böse mit sich nehmen1).
— Um sich von der herrschenden „Peste“ zu befreien, beluden 1857
die Aymara-Indianer ein Llama mit den Kleidern der Angesteckten,
besprengten sie mit Branntwein und jagten das Thier in’s Gebirge,
in der Hoffnung, dass es die Krankheit wegführen würde 2).
Die Vorstellung ist hier überall dieselbe. Man hofft sich durch
das in die Wüste gejagte Thier von körperlichen oder geistigen
Krankheiten (Sünden) zu befreien, die jenes, auf das durch irgend
eine Ceremonie die Fehler, Sünden, Unreinlichkeiten, Krankheiten
übertragen sind, mit fortnimmt.
Wer im Böhmerwald das Fieber hat, geht vor Sonnenaufgang
in den Wald, sucht ein Schnepfennest, nimmt ein Junges heraus und
behält es drei Tage bei sich. Nach drei Tagen lässt er die Schnepfe
im Walde wieder los; alsogleich verliert er das Fieber3). In Bonny,
Nigerdelta, binden sich Kranke ein lebendiges Hühnchen auf dem
Herzen fest; schreit das Thier und schlägt mit den Flügeln, so be-
trachtet man dies als ein günstiges Symptom, weil es die Essenz der
Krankheit an sich zieht und dadurch Schmerzen leidet 4). Der eng-
lische Bauer verfährt in derselben Weise. Er näht einen lebenden
Mistkäfer in ein Leinwandsäckchen und hängt ihn seinem am Keuch-
husten leidenden Kinde um den Hals, damit der Käfer die Krankheit
an sich ziehe 5). Im Voigtlande hält man Kreuzschnäbel, weil sie
die Krankheiten „anziehen", und in verschiedenen Gegenden ver-
schenkt man Blumen, die in Krankenzimmern standen, in der häss-
lichen Absicht, dass der Empfänger die Krankheit mit übernehme.
Es ist nicht zu verkennen, dass die Schnepfe in Böhmen, das Hühnchen
am Niger, der Mistkäfer in England, der Kreuzschnabel im Voigt-
lande andere Formen des jüdischen Sündenbockes sind. Fehlt ein
Thier, auf das man Sünde oder Krankheit übertragen kann, so be-
gnügt man sich mit dem blossen Verwünschen in ein fremdes Land,
wohin auch noch unser „Ich wollte, du wärest wo der Pfeffer wächst"
h Ausland 1872. 117.
2) Journ. Ethnolog. Soc. II. 237. (1870.)
8) Grohmann, Aberglauben aus Böhmen. Nr. 1173-
4) Bastian, Geogr. und Ethnolog. Bilder. Jena 1873. 165.
5) Anthropol. Review. V. 318. (1867.)
Sündenbock.
sieben Jahre alt geworden ist, so findet die Ceremonie statt, welche
man den „Teufel austreiben" nennt. Der Vater macht einen Stroh-
drachen, welcher den bösen Geist vorstellen soll, besteckt ihn mit
fünf verschiedenfarbigen Fahnen und lässt ihn in der Wüste steigen.
Wie der Sündenbock soll der Drache alles Böse mit sich nehmen1).
— Um sich von der herrschenden „Peste“ zu befreien, beluden 1857
die Aymara-Indianer ein Llama mit den Kleidern der Angesteckten,
besprengten sie mit Branntwein und jagten das Thier in’s Gebirge,
in der Hoffnung, dass es die Krankheit wegführen würde 2).
Die Vorstellung ist hier überall dieselbe. Man hofft sich durch
das in die Wüste gejagte Thier von körperlichen oder geistigen
Krankheiten (Sünden) zu befreien, die jenes, auf das durch irgend
eine Ceremonie die Fehler, Sünden, Unreinlichkeiten, Krankheiten
übertragen sind, mit fortnimmt.
Wer im Böhmerwald das Fieber hat, geht vor Sonnenaufgang
in den Wald, sucht ein Schnepfennest, nimmt ein Junges heraus und
behält es drei Tage bei sich. Nach drei Tagen lässt er die Schnepfe
im Walde wieder los; alsogleich verliert er das Fieber3). In Bonny,
Nigerdelta, binden sich Kranke ein lebendiges Hühnchen auf dem
Herzen fest; schreit das Thier und schlägt mit den Flügeln, so be-
trachtet man dies als ein günstiges Symptom, weil es die Essenz der
Krankheit an sich zieht und dadurch Schmerzen leidet 4). Der eng-
lische Bauer verfährt in derselben Weise. Er näht einen lebenden
Mistkäfer in ein Leinwandsäckchen und hängt ihn seinem am Keuch-
husten leidenden Kinde um den Hals, damit der Käfer die Krankheit
an sich ziehe 5). Im Voigtlande hält man Kreuzschnäbel, weil sie
die Krankheiten „anziehen", und in verschiedenen Gegenden ver-
schenkt man Blumen, die in Krankenzimmern standen, in der häss-
lichen Absicht, dass der Empfänger die Krankheit mit übernehme.
Es ist nicht zu verkennen, dass die Schnepfe in Böhmen, das Hühnchen
am Niger, der Mistkäfer in England, der Kreuzschnabel im Voigt-
lande andere Formen des jüdischen Sündenbockes sind. Fehlt ein
Thier, auf das man Sünde oder Krankheit übertragen kann, so be-
gnügt man sich mit dem blossen Verwünschen in ein fremdes Land,
wohin auch noch unser „Ich wollte, du wärest wo der Pfeffer wächst"
h Ausland 1872. 117.
2) Journ. Ethnolog. Soc. II. 237. (1870.)
8) Grohmann, Aberglauben aus Böhmen. Nr. 1173-
4) Bastian, Geogr. und Ethnolog. Bilder. Jena 1873. 165.
5) Anthropol. Review. V. 318. (1867.)