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Dr. Becker & Newman (Köln); Ensor, James [Ill.]
Ausstellung James Ensor: Oktober-November : Eröffnung, Samstag, den 26. Oktober — Köln: Dr. Becker-Newman, 1924

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https://doi.org/10.11588/diglit.73319#0009
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empfindet. Seine Stilleben sind Tod-Leben der einsamen Landschaften
seinerSeele.Er ist ein MalerdesZwielichts,der Menschendämmerung.
Manchmal zerflatternd wie Turner, manchmal ätherisch-ästhetelnd,
manchmal eine Lust an Rubens-Hintern austobend.
Das blutige Geschwisterpaar Wollust und Tod spiegelt sich ihm in
Panoramen von Masken und Skeletten, in Gespensterklubs. Mit und
hinter allen Masken zeigt dieser erbitterte Moralist ein Proteuswesen,
das sich nie verbergen, nie verleugnen kann: Gemeinheit, die orgi-
astischen Mordinstinkte der Menge. Er flieht gern vom Leben zur
Starrheit, zum Arrangement. Die eindeutige Maske und das ein-
deutige Skelett: die automatische Puppe ist ihm lieber als der un-
erziehbare, zweideutig lauernde Massenmensch.
Die Lyrik und Epik seiner Graphik und Bilder reizt zum Philosophieren.
In der Weltliteratur sind seinesgleichen realistische Phantasten —
etwa Rabelais, Swift, Poe, Baudelaire, E. T. A. Hoffmann; am näch-
sten käme ihm eine verfeinerte, gesteigerte Mischung aus Meyrink
und Lemonnier.
Wie Hieronymus Bosch, Pieter Breugel, Callot, Hogarth und Goya
diesem Meister verwandte Meister waren, so lernten sichtbar von
ihm die Graphiker Alfred Kubin und George Grosz. Unter den lebenden
Zeichnern schätze ich nur einen höher als Ensor: Oskar Kokoschka.
Historie belebt Ensor gern durch barocken Sarkasmus. Er läßt
berühmte persische Sanitätsräte den Stuhlgang des Königs Dairus
nach der verlorenen Schlacht von Arbela untersuchen; biblischeren
Themen weiht er einen manchmal satirisch bluffenden Realismus,
der sich oft schon in der Namengebung ankündigt. So wenn bei ihm
Jesus von den Teufeln Dzitts und Hihanox in die Hölle geleitet wird.
Wie etwa ich in einer (nicht veröffentlichten) Erzählung Christum
vor dem Krieg in Wien auftreten ließ, ließ Ensor Christum in Brüssel
einmarschieren, Goethe ließ ihn Rom bedrohen.
Ensor ist ein aktuellen und architektonischen Scherzen nicht ab-
geneigter Graphiker allerersten Ranges, ein Darsteller seltenen
Formats, ein revoltierender Menschenkenner, ein großer Maler
der Erde, des Meeres, des Himmels und der Hölle — wer es mir
nicht glauben will, öffne seine Augen und sehe sich Ensors Werk an!
 
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