Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Belvedere: Kunst und Kultur der Vergangenheit; Zeitschrift für Sammler und Kunstfreunde — 7.1925

DOI article:
Normann, Friedrich: Mythos und Kunstgeschichte
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.69951#0079

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
MYTHOS UND KUNSTGESCHICHTE

VON FRIEDRICH NORMANN
Das Zeitalter, in dem wir leben, ist dem Mythos fremd. Unser Auge hat keine Bild-
kraft mehr, der Verstand regiert unser Schauen. Ja noch mehr, wir belächeln sogar
jene Zeiten, denen die Welt ein Schauplatz ringender Kräfte war, denen das Drama
des Weltgeschehens nicht in abgegrenzten Räumen vor sich ging, sondern der Welten-
raum selbst war die Bühne; die Schauspieler waren die Naturmächte und nicht maskierte
Menschlein. Heute ist alles anders geworden, unser Theater seit den Griechen kennt
nur noch menschliches Tun und Leiden, losgelöst von Mythos und Symbol.
Wie sehr wir Heutigen dem gestaltenden Kosmos fremd sind, zeigt die Erinnerung an
eine Geologievorlesung. Der dozierende Professor wies einleitend darauf hin, wie man
einmal glaubte, daß die Erdumwälzungen, die sich auftürmenden Gebirge durch Riesen
entstanden seien, die mit ihren mächtigen Rücken die Erdkruste bewegten, sprengten
und beiseite warfen. —- Hiebei brachen die Studenten in ein fröhlich überlegenes
Gelächter aus. Das intellektuelle Denken verstand nicht mehr das gewaltige Bild mensch-
lichen Kräftespiels. Wir wissen ja, wie alles gekommen ist, und Märchen sind für Kinder.
— So glauben wir. Unser gegenwartgebundenes Denken sieht seine Relativität nicht ein.
Es glaubt sicli auf einem Gipfel, fühlt sich berechtigt auf alle vergangenen Sehformen mit-
leidig herabsehen zu können und übersieht, wie die Kette der Weltanschauungen Glied
an Glied aneinanderreiht, ohne dem einen oder dem anderen eine größere Bedeutung
zuzuerkennen, als eben ein Glied zu sein. Die Kette ist unendlich — endlich ist der Teil.
— Heute sind uns die Erscheinungen des Kosmos Körperlichkeiten, deren Materie und
deren Gesetze wir erforschen und erkennen; einstens war der Kosmos etwas anderes,
er war Leidenschaft und Seele, er war Bild.
Nur um den Menschen selber kristallisiert sich noch Seelisches. Wie dieses Seelische
aber auch ein Wanderndes geworden, wie es ohne Heimat und nirgends festgewachsen,
wie es selbst ohne Kulturbegrenzung ist, mögen nachstehende Zeilen beweisen.
Schwer ist es zu erkennen, wo die Geburtsstätte eines Mythos ist — wir erkennen nur
ein Wanderndes, gleich Gräsern der ungarischen Steppe, die irgendwo vielleicht durch
wurzellose Zigeuner übertragen, urplötzlich am Wiesenrain eines fränkischen Dörfchens
Fuß fassen. Niemand weiß, wer den Samen dorthin getragen, wir können nur die Tat-
sache feststellen. Woher kommt der afrikanische Wüstensand, der durch Augenärzte
in den Lidspalten mitteleuropäischer Großstadtmenschen festgestellt wird?
Der Wind hat ihn weitergetragen, lautet die einzige Antwort.
Und nun zum menschlichen Geschehen! Alles Außergewöhnliche reizt zur Legenden-
bildung. Der gute, festgewurzelte Bürger eignet sich nicht als Versuchsobjekt für

Forum

45
 
Annotationen