Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Die Bewegung: Zeitung d. dt. Studenten — 10.1942

DOI issue:
Nr. 21 (17. Oktober 1942)
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.6184#0238
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Biennale 1942 in Venedig

j Stud. phil. Ingvelde Karwehl schildert ihre Eindrücke

Unter noch blassen Sternen und einem sanft
erdunkelnden Himmel gondelt das abendliche
Treiben Venedigs durch die schmalen Schächte
zwischen Palästen und Hinterhäusern dahin
und führt über anmutige Treppenbrücken, die
in hochgewölbten Bogen die Ufer der zäh-
flüssigen, fast schwarz scheinenden, leise
glucksenden Wasserstraßen verbinden ...

Wie so oft in Venedig geschieht es dann,
daßkman plötzlich vor der festlichen Pracht
eines weiten Platzes steht. So auch tritt man
auf den Campo des Theaters La Fenice, der
beherrscht wird von dessen Fassade, einer
klassizistisch ernsten Vorhalle mit mächtigen,
schweren Säulen. Innen aber empfängt den
Besucher die lichtübergossene Heiterkeit und
Gelöstheit des ganz späten Rokokos in einem
hufeisenförmigen, weitausladenden Rangtheater
mit 160 lauschigen Logen, die zu beiden Seiten
und an den Baikonen über und unter ihnen
von zierlichen Lampen eingerahmt werden.

Wahrhaft ein würdiger Saal, die zeitgenös-
sische Musik der Welt zu empfangenl Der
Auftakt und das abschließende Konzert der
VIII. Internationalen Musikwoche
in Venedig fanden hier statt. Die übrigen
vier kammermusikalischen Veranstaltungen,
von denen eine ausschließlich deutscher Musik
gewidmet war, hörte man in der Sala Apol-

Heinrich George verkörpert in dem Film „Der große Schatten", der
auf der Biennale wahre Beifallsstürme erntete, das Schicksal eines großen
Schauspielers. Regie führte Paul Verhoeven

lineä. Das Strub-Quartett und der Bariton Horst
Günther brachten Werke von fünf jugend-
lichen Komponisten zu Gehör: ein Quartett
von Theodor Berger, der in Italien schon
durch eine Furtwängler-Aufführung von 1941
bekannt ist, fünf Lieder des im Osten gefalle-
nen Helmut Bräutigam, eine Sonate von Ha-
rald Genzmer, der in Berlin studiert hat und
schon auf dem Maggio musicale in Florenz
im vorigen Jahre zu hören war, vier Lieder
von Fritz von Borries, dem Schüler Regers und
Max von Schillings, und ein musikalisch stren-
ges Quartett von Karl Hoeller. Außer den sehr
interessanten und stürmischen Werken der
Italiener waren Spanien, Ungarn, Kroatien,
Rumänien, Holland, Belgien und Frankreich
mit je einem Meister vertreten, die Schweiz
mit drei und vor allem Japan mit den Liedern
von fünf verschiedenen Komponisten.

Ein unruhiger vielstimmiger Klang, dessen
einzelne Elemente hier nicht untersucht wer-
den können, ergab sich aus den ersten fünf
Abenden moderner Musik, die der Jugend und
ihrem vorwärtsdrängenden, oft noch gärenden
und ganz unklassischen Schaffen gewidmet
waren. Das letzte Konzert war den Vätern
unserer Zeit geweiht, deren Kunst bei der
gegenwärtigen Musik Pate gestanden hat.

Ein auserlesenes Publikum, das einen Teil
von Europas Kultur ausmacht, versammelte
sich, von Gondeln herangetragen oder zu Fuß
das Theater erreichend, zur Abendstunde im
hellen La Fenice, um den weiten und hohen
Zuschauerraum dicht zu füllen. Es war ein duf-
tiges sommerliches Bild. Zu Beginn ertönten
die geistvoll gemischten Klänge der 2. Sinfonie
des heute 60jährigen italienischen Musikers
Gian Francesco Malipiero, der in Italien
besonders durch seine Opern ein heftiges

Seite 8 / Die Bewegung / Folge 21

Für oder Wider erregt hat. Nach diesem
jüngsten Musikstück des Abends hörte man
den berühmten „Pacific 231" des Schweizers
Arthur Honegger, dessen Lokomotiven-Rhyth-
mus wie stets zündete. Zum Höhepunkt vor der
Pause wurde Ravels „Bolero", dessen von In-
strument zu Instrument wanderndes, ostinat
wiederholtes Thema nie seine grandiose Wir-
kung verfehlt. Auf Strawinskis einfallreiche
und klug gebaute Ballettmusik „Petruska"
folgte dann das immer wieder leidenschaftlich
applaudierte sinfonische Gedicht von Richard
Strauß „Till Eulenspiegel", dessen Klänge und
Harmonien, «voller Eulenspiegeleien stecken.
Und zum Schluß dirigierte der temperament-
volle Portugiese Pedro De Freitas Branco, der
sich voller Enthusiasmus für die Verbreitung
der modernen spanischen Musik einsetzt,
Manuel De Fallas Ballett „Der Dreispitz", des-
sen Musik auf so glückliche Weise folklori-
stische Elemente mit einer äußerst verfeinerten
Kultur vereinigt.

An der XXIII. Internationalen
Kunstausstellung, in Venedig, die'
vom Juni bis September geöffnet war, haben
elf Nationen teilgenommen. Sie waren in zwei
Palästen und elf Pavillons in den öffentlichen
Gärten Venedigs untergebracht. Der Vaporetto,
der kleine Dampfer, der von der Anlegestelle
bei St. Marco zum
Lido fährt, legt auch
dort an — vor einer
baumgeschmückten
Promenade, die dem
Besucher einen be-
zaubernden Blick auf
das sonnige Venedig
und seine wie Fili-
granarbeit wirkende
Architektur schenkt.
In einem sommer-
lichen, meerumspül-
ten Park liegen die
weißen Bauten ver-
teilt, von denen Ita-
lien den großenHaupt-
palast einnimmt und
jetzt nach dem Aus-
fall von Belgien,
Frankreich, England
und. ,den Vereinigten
Staaten auch noch
deren Pavillons mit
bestimmten Werk-
gruppen besetzt hat.

Es ist unmöglich,
die italienische Fülle
auch nur anzudeuten.
In der Malerei könnte
man drei völlig ver-
schiedene Künstler
einander gegenüber-
stellen, die drei Mög-
lichkeiten der zeit-
genössischen italie-
nischen Kunst ver-
körpern. Der älteste
unter ihnen, der über
60jährige Pietrp Gau-
denzi, der als Acca-
demico d'Italia seine
Anerkennung gefun-
den hat und bei Rom
lebt, vertritt die Rich-
tung einer traditions-
gebundenen Malerei,
die, sauber im Stil
sich der großen Ver-
gangenheit verpflichtet
fühlt. Der einst , so revolutionäre Giorgio De
Chirico, der jahrelang in Paris gelebt und
die Kunstwelt durch seine eigenwilligen, mit
expressionistischer Wucht dargestellten Visio-
nen erregt hat, ist stiller und eleganter in sei-
ner Formen-und Farbensprache geworden, hat
eine Wandlung durchgemacht und doch seine
besondere Note behalten. Von der jungen Ge-
neration sei ein Maler herausgegriffen, der
vielleicht nicht für alle Gefährten stehen kann
und wohl auch nicht der "überragendste unter
ihnen ist, in dem sich aber wesentliche Kenn-
zeichen eines Stürmer- und Dränger-Stiles
aussprechen: Dilvo Lotti, der dunkle, nur von
seltenen Lichtflecken aufgehellte Ölbilder mit
kräftigen und dick aufgetragenen Farben ge-
malt hat, die in ihrer Eckigkeit wie kolorierte
Holzschnitte wirken. Die Motive, meist Still-
leben, hinter denen eine Landschaft er-
scheint, oder religiöse Themen, sind nur noch
Anlaß zu einer ganz eigenen Sprache der Far-
ben und Formen, die nicht das wirkliche vor-
dergründige Dasein meint, sondern eine fast
unheimlich wirkende Welt der Phantasie ins
Sichtbare zwingt.

Ob schließlich die Futuristen, denen Mari-
netti sorgend und fordernd voranschreitet und
die jetzt durch den Krieg und seine neuartigen
Problemstellungen wieder einen Aufschwung
bekommen haben, die vierte italienische Mög-
lichkeit für die Zukunft sind — das kann hier
nicht erörtert werden und sei dahingestellt.

Das Deutsche Häuf war beherrscht von den
klassischen Plastiken von Professor Fritz
Klimsch und den aus dem Fonds einer alten
und kultivierten Malschule lebenden Gemälden
des Professors Arthur 'Kampf. Die harten
Kriegsbilder eines Wilhelm Sauter oder das
deutlich in Farben und Formen umrissene Ge-

(Aufn.: Tobis-Gehlen)

mälde vom Kriege im
Atlantik von Claus
Bergen, die Darstel-
lungen der Technik,
die Franz Gerwin
pastellartig weich, Ri-
chard Geßner härter
und tektonischer und
Ewald Jorzig farbig
kräftiger zeigen, ga-
ben den Rahmen, der
noch ausdrucksvolle
Portraitplastiken des

Dresdener Lehrers
Karl Albiker und tref-
fende Karikaturen von
Olaf Gulbransson, O. E.
Plauen, Hanz Schweit-
zer-Mjölnir und Ed-
ward Tony enthielt.

Die Spanier haben
ihren Pavillon fast
ausschließlich mit den
in Berlin ausgestell-
ten Werken gefüllt,
die Slowaken zeichne-
ten sich durch eine
aus ihrer Landschaft
gewachsene farben-
volle Malerei aus, die
Dänen blieben dies-
mal etwas blasser, die
Schweden ließen in
erster , Linie duftige
Aquarelle und eine
zarte Schwarz-Weiß-
Kunst sehen, die
Schweiz zeigte am
Beispiel eines Plasti-
kers ihre Kraft zum charakteristischen Aus-
druck, im bulgarischen Saal stand eine helle
durchsichtige, etwas dünnflüssige Malerei im
Mittelpunkt, und die Rumänen bewiesen wie-
der ihre hohe impressionistische Malkultur.

Am besten in Erinnerung werdön wohl die
Räume Ungarns und Kroatiens bleiben. Ungarn
besitzt von jeher farbenstarke Maler, deren
Möglichkeiten von der bunten und humorvollen
Studie des Volkslebens bis .zu ganz aus dem
Geistigen lebenden Visionen in düsteren oder
frohen Tönen reichen. Eine Offenbarung dieser
internationalen Schau waren wieder die Werke
des kroatischen Bildhauers Ivan Mestrovic, der
vor mehreren Jahren in Berlin mit einer Aus-

Der unter der Regie von. Veit Harlan entstandene Farbfilm „Die goldene
Stadt" mit Kristina Söderbaum in der Hauptrolle erregte in Venedig
großes Aufsehen und höchste Bewunderung (Aufn.: ufa-Krahnert)

Stellung hervorgetreten ist. Die beiden mächti-
gen Evangelisten.Johannes und Lukas erfüllten
mit ihrem Atem die Säle. Die Natur, die kör-
perlichen Formen und die anatomischen Ver-
hältnisse sind ganz einem überwältigenden
Ausdruck der letzten menschenmöglichen Dinge
unterwürfen, ohne daß diese Werke zu expres-
sionistischen Schemen würden. Nein, sie bleiben
lebendig erfüllte Formen, die von einer inneren
Kraft überguellenl

Wenn solche Meister in einem uns befreunde-
ten Lande unermüdlich schaffen, kann uns das
nicht die Hoffnung auf eine europäische Kultur
geben, an der alle Völker teilhaben?

Querschnitt durch das europäische Filmschaffen

Auf der X. Internationalen Film-
kunstschau hat der europäische Film nur
sein ernstestes Gesicht gezeigt. Der Krieg hat
wohl bewirkt, daß die meisten Völker nur ihre
schwerblütigsten Filme als genügend repräsen-
tativ betrachtet haben, um sie zur diesjährigen
Biennale zu schicken. Nur Deutschland,
das früher so gerne wegen seiner Schwerfällig-
keit gerügt wurde, war mit dem heiteren Film
„Wiener Blut" vertreten.

Während sich in der Kunst, in der Musik und
in der Dichtung das Höchste und Äußerste, was
Menschen vermögen, offenbart, erleben wir im
Film die Breite und den Reichtum der seeli-
schen Möglichkeiten in den durchschnittlichen
Menschen eines Volkes.

Der wahre völkerverbindende Film ist der,
welcher aus dem eigenen Wesen gewachsen
ist, ohne die nationalen Eigenschaften zu eigen-
willig zu betonen und zu .ausschließlich aus
ihnen heraus zu leben. Aus diesem Grunde ist
beispielsweise ein Film wie ,>Die große Liebe",
dessen Atmosphäre das ausländische Publikum
als etwas einseitig in unserer völkischen Beson-
derheit lebend empfand, nicht überall mit Ver-
ständnis aufgenommen worden, während der
Schauspielerfilm „Der große Schatten" trotz
der im deutschen Film schon fast etwas zur
Schablone erstarrten Gegenüberstellung von
Vater und verlorener Tochter rauschenden
Publikumsbeifall bekam. Dasselbe Grundthema
zeigte der einzige Farbfilm in Venedig, der
deutsche Film „Die goldene Stadt", der das
zukünftige Gesamtwerk aus Bildeinstellung,
farbiger Komposition, Dialog und Musik 'schon
im Keim enthält.

Auch für den historischen Film hat Deutsch-
land zwei Beispiele gebracht, die Persönlich-
keiten des eigenen Volkes filmisch einfangen:
den klar ausgebauten leidenschaftlich geform-
ten Film „Der große König" und den drama-
tisch bewegten Film über den großen Bau-
meister „Andreas Schlüter". Bewundernswert
ist an diesen Filmen immer wieder die Offen-
heit, mit der auch der Kummer und die
Wunden so geschildert werden, daß sie
ein tätiges Mitgefühl im Zuschauer er-
wecken. Die Darstellung der russischen Zu-
stände von 1922—23 in dem Film „Wir Le-
bende" ist wohl zu romantisch und psycho-
logisch, um jener nüchternen, grauenvollen
Zeit ganz gerecht zu werden, aber an einigen
Stellen von starker geistiger Intensität. Die
übrigen italienischen Filme erzählen mit viel
Sentiment, schönen Aufnahmen und guten Dar-
stellern traurige Liebesschicksale aus dem 19.
und 20. Jahrhundert, von denen sich „Eine
Liebesgeschichte" durch die besonders aus-
gewogene Regie und einen sympathischen

Schluß und „Die schöne Schläferin" durch das
volkstümliche Milieu auszeichnen.

Spanien hat mit dem Film „Raza" einen
Film aus seinem Kriegserlebnis geschaffen, der
mit künstlerischem Ernst gemacht ist und
schöne Einzelszenen besitzt, während der Film
„Hochzeit in der Hölle" einen zu sensationellen
Fall herausgreift, um zu einer Allgemeingültig-
keit zu kommen. Die übrigen Filme sind roman-
tisch, farbig oder folkloristisch, wie auch der
einzige Spielfilm Portugals „Ala Arriba".

Aus Ungarn war außer einem Schablonen-
film der Film „Menschen ans dem Gebirge"
zu sehen, der den echten Ausdruck des Vol-
kes nicht immer mit überzeugenden Mitteln
wiederzugeben sich bemüht, und „Sühne", ein
Film aus der ungarisch-russischen Auseinan-
dersetzung, dessen echte Dramatik noch von
zuviel Kriminalfilmspannung verdeckt wird.
Nur dem finnischen Film „Jenseits der
Grenzen" ist es wirklich gelungen; nationale
Kämpfe mit einer Liebesgeschichte so zu ver-
binden, daß das Gleichgewicht nicht verscho-
ben wird.

Norwegen ist nur mit zwei Kulturfilmen
vertreten gewesen, während Schweden
hauptsächlich mit Spielfilmen in Erscheinung
trat, die in den Gegenwartsstoffen ihre volks-
erzieherische Tendenz fast allzu deutlich aus-
sprechen und in einem Film Ereignisse aus der
nationalen Geschichte auferstehen lassen. Der
einzige Film Dänemarks, „Die Vernich-
tete", zeigt diese bewußten Vorzeichen nicht,
sondern gleitet trotz eines interessanten Aus-
gangspunktes, das Schicksal einer Frau, die
das Gedächtnis verloren hat, zu schildern, in
eine Kolportage ab.

An einem verheißungsvollen Anfang stehen
die Länder des Balkans. So hat Rumänien
einen Kulturfilm „Römische Erde", einen an
den Wochenschauen • geschulten Dokumentar-
film und unter der Spielleitung eines italieni-
schen Regisseurs einen Spielfilm aus dem
rumänisch-russischen Konflikt „Odessa in
Flammen" gezeigt, dessen Darstellungsmittel
jedoch dem Thema nicht gerecht werden.

Erst im vorigen Jahr haben Bulgarien
und Kroatien mit einer nationalen Film-
produktion begonnen, die sich inzwischen noch
auf Dokumentarfilme beschränkt. Die besten
Beispiele konnten in Venedig vorgeführt
werden.

Diesen raschen Überblick über die euro
päische Filmkultur darf man zufriedener schlie-
ßen, als anfangs erwartet werden konnte. Sie
kann nicht als vollendet gepriesen werden,
aber sie läßt überall ein unaufhörliches Be-
mühen um die Vollendung erkennen.
 
Annotationen