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Residenz lange den Kopf darüber, welche Bewandtniß
es mit deni geheimnißvollen Fremden habe; ob er
reich oder arm, selbstständig oder abhängig, insbeson-
dere aber, welche Absichten ihn gerade nach dem stillen,
entlegenen Neuenburg geführt. Aber man erfuhr
nichts, man errieth nichts.
Plötzlich, nach Verlauf einiger Monate, trat der
Gegenstand der allgemeinen Neugier ans feiner Zurück-
gezogenheit heraus. Eines Vormittags, um die zwölfte
Stunde, sah man den Doktor Bräuer, in feinster
Visiten-Toitette, mit einem Ordensbändchen im Knopf-
leche seines Frackes, in eine elegante Miethkntfche
steigen. Ein PWkai in schwarzer Lwree, der den Wagen-
schlag schloß, empfing die nöthige Weisung, und fort
rollte die Kutsche — der Alten Albertusstcaße zu.
Zehn Minuten daraus hielt der Wagen vor dem
stattlichen Haufe des Fräuleins Nathusius.
Der Doktor übergab dem Lakai seine Karte, nm
ibn bei dem Fräulein anzumclden, und als nach fünf
Minuten der Abgesandte mit der verbindlichen Mel-
dung zurückkehrte, daß der Herr Doktor erwartet
werde, stieg dieser ans nnd ging leichten Schrittes
durch das Portal des Hauses.
Der Wagen wartete, wartete lange, offenbar weit
hinaus über die Zeit einer gewöhnlichen Visite. End-
lich, nach fast einer Stunde, kehrte der Doktor zurück,
stieg wieder ein und fuhr seiner bescheidenen Wohnung
zu. Ein blanker Thaler, den er beim Aussteigen dem
Lakaien als Trinkgeld in die Hand drückte, schien darauf
hinzudeulln, daß der Doktor mit dem Resultat seiner
absonderlich langen Visite ganz ausnehmend zufrieden sei.
Es war nicht zu verwundern, daß die mit einer
gewissen Ostentation abgestattete, auffallend lange Visite
des Doktors bei Fräulein Nathusius Aussehen erregt
hatte und der allgemeinen Neugierde neue Nahrung
gab. Alle Welt erwartete jetzt, daß der räthselhafte
Fremde nunmehr seine Zurückgezogenheit völlig aufgeben
und daß man endlich Alles erfahren werde, was man zu
erfahren schon so lange vergeblich gebrannt hatte.
Aber auch diese Erwartung wurde völlig getäuscht.
Man mußte sich mit der einen, die Wißbegier eher
noch steigernden als befriedigenden Wahrnehmung be-
gnügen, daß der Doktor von jetzt an täglich, genau
um dieselbe Stunde, seinen Besuch bei Fräulein Na-
thnsius wiederholte, jedoch stets zu Fuß und im einfachen
Ueberrock, und daß jeder dieser mysteriösen Besuche
fast immer eine Stunde, zuweilen sogar bis zwei.
Stunden in Anspruch nahm.
Was in aller Welt kann ein fremder, völlig un-
bekannter junger Manu mit dem zwar sehr reichen,
aber bizarren, geizigen, mit der Gesellschaft und nut
sich selbst grollenden alten Fräulein zu verhandeln
haben? Woher war diese seltsame, unerklärliche In-
timität zwischen Beiden, die sich, der höchsten Wahr-
scheinlichkeit nach, vorher noch niemals gesehen hatten,
entstanden? Und zu welchem Zweck Ivar sie geschlossen
worden, zu welchem Ende sollte sie führen?
So fragte man sich, aber alle diese Fragen waren in den
Wind gesprochen; Niemand fand eine Antwort darauf.
Kurz, man stand vor einem Näthsel, an dessen
Lösung die klügsten Köpfe verzweifelten, vor einem
Geheimuiß, dessen Schleier d-.m schärfsten Blicke un-
durchdringlich schien.
Selbst der Bruder des Fräuleins Nathusius, der
aiftgeklärle und welterfahrene Doktor Kreyer, strengte
sich vergeblich au, m einer Unterredung mit seiner
Schwester das tiefe Dunkel der Sache zu durch-
dringen. Alle seine Fragen, direkte od r indirekte,
wurden von ihr entweder ausweichend oder mit Ge-
meinplätzen oder gar nicht beantwortet . . .
Ein °Geheimniß zwischen Zweien, au dessen Be-
wahrung beide Theile ein dringendes Interesse haben,
läßt sich eben selten enthüllen, wenn nicht gewisse
damit verknüpfte Umstände oder irgend ein unberechen-
barer Zufall seine Entdeckung herbeiführen.
Solcher Art waren auch die seltsamen geheimniß-
vollen Beziehungen, welche zwischen dem Fräulein
Nathusftrs und dem Doktor Bräuer bestanden und
sich so entschieden der Erforschung jedes Uneingeweih-
ten entzogen.
Wiederum waren einige Wochen verstrichen, man
befand sich im Winter des Jahres 1843.
Da trng sich plötzlich ein Ereigniß zu, welches
dem Gange unserer Geschichte eine neue Richtung gab
und zur Grundlage ihrer späteren, von der Nemesis
heraufbeschworenen Entwickelung wurde.
Fräulein Nathusius hatte ihre reiche und schöne
Nichte Eveliue mit dem Sohne eines angesehenen
Kaufmannes verlobt.
Der Bräutigam, Hermann Schomburg, war
ein in jeder Beziehung achtungswerther junger Mann
und des hohen Glückes würdig, an der Hand Eve-
linens den Weg durch's Leben zu betreten. Und da
man wußte, daß das Bündniß der Verlobten lediglich
aus gegenseitiger Zuneigung hervorgegaugen, so wurde
Das Buch für AllZ.
dem Glücke derselben selbst von Denjenigen Beifall
gezollt, die sich angeregt hätten fühlen können, es zu
beneiden oder mit mißgünstigen Augen anzusehen. —
Fräulein Nathusius hatte, im Einvernehmen mit
den Eltern des Bräutigams, bestimmt, daß die Ver-
mählungsseier des jungen Paares nach Ablauf von
drei Monaten stattfiuden solle. Diese Bestimmung
änderte sie jedoch alsbald dahin ab, daß sie den Zeit-
punkt der Vermählung um sechs Monate hinausschob.
Die Gründe, welche sie hiesür geltend machte, waren
zwar wenig stichhaltig, indessen fanden sie von Seiten
der Betheiligten keinen erheblichen Wfterspruch. Man
betrachtete diese Abänderung als das Ergebniß einer
Laune des wunderlichen und eigensinnigen alten Fräu-
leins nnd hielt es für angemessen, ihre Schwächen
mit Nachsicht zu behandeln . . . Niemand, weder Eve-
line, noch deren Verlobter, noch dessen Eltern hatten
eine Ahnung davon, daß hier etwas Anderes als die
bloße Laune des bizarren Fräuleins im Spiele sei; —
es war der Wille des Doktors Bräuer, der hier wirk-
sam gewesen, und den er durch seinen Einfluß auf
Fräulein Nathusius zur Geltung gebracht hatte.
Nachdem auf diefe Weise die eheliche Vereinigung
der beiden Verlobten um ein halbes Jahr in die Ferne
gerückt worden, benutzte der geheimnißvolle Fremde
feine täglichen Besuche im Haufe des Fräuleins Na-
thusius dazu, sich dem dort ebenfalls häufig anwesen-
den Bräutigam Eveliueus zu nähern. Das Entgegen-
kommen des Doktors, unterstützt durch sein verbind-
liches, einschmeichelndes und doch auch vorsichtig takt-
volles Benehmen, sowie durch die hohe Achtung, mit
welcher Fräulein Nathusius ihn auszeichnete, fand
denn auch von Seiten des jungen Herrn Schomburg
die erwünschte Erwiederung. Und so bildete sich
zwischen beiden jungen Männern rasch ein freund-
sckaftliches Verhältniß, welches von dem Verlobten
ausis Zuvcrkommeudfte gepflegt wurde, während der
Doktor es sich angelegen sein ließ, sich im Vertrauen
desselben festzusetzen.
Ueber seine Beziehungen zu Fräulein Nathusius
machte der Doktor, im Einverständniß mit derselben,
seinem jungen Freunde in anscheinend vertraulicher
Weise solche Mittheilungen, welche zwar aller Wahr-
heit entbehrten, aber doch geschickt genug erfunden
waren, um für Wahrheit hingenommen zu werden ...
Um dieselbe Zeit verkehrte der Doktor Bräuer
auch noch mit einem Fremden, einem Kurländer, der
erst vor einigen Wochen in Neuenburg, anscheinend
dauernd, sich niedergelassen hatte.
Dieser Fremde, der sich Baron v. Trottheim
nannte, machte viel von sich reden durch den Auf-
wand, den er trieb und der einen ansehnlichen Reich-
thum voraussetzeu lfiß. Vollends aber erregte der
Baron die allgemeinste Aufmerksamkeit durch ein
Unternehmen, mit dessen Gründung er sich beschäftigte.
Er etablirte eines jener ephemeren Geld-Institute,
welche in der neuesten Zeit durch ihre an's Licht ge-
tretene Schwiudelhaftigkeit so stark in Verruf gekom-
men, damals aber — im Jahre 1843 — noch als
ein Wunder weltbeglückenden finanziellen Spekulations
geistes angestaunt wurden und, angelockt von den bis
dahin unerhört gewesenen scheinbaren Vortheileu, die
das Unternehmen gewährte, reißende Betheiligung
fand von Seiten Aller, die nach schnellem und leich-
tem Gewinn dürsteten.
Das erst später allgemein gewordene Haschen und
Jagen nach mühelosim Gelderwerb hatte damals noch
nicht alle Schichten der Gesellschaft durchdrungen;
die Geldfpekulation war so zu sagen noch Monopol
der anerkannten Finanziers, und der kleine Kapitalist,
der heute zu seinem Schaden seine sauer erworbene
Habe in fieberhaft erregter Habgier leichtfertig auf's
Spiel setzt, dachte im. Entferntesten noch nicht daran
auch nur einen Groschen anders, als gegen die un-
zweifelhafteste Sicherheit herzugeben. Die Aussicht
auf hohen, aber ungewissen Gewinn hatte noch keinen
Reiz für ihn. Erst die ost wiederholten Beispiele
schnell reich gewordener sogenannter „kleinen Leute" rissen
auch ihn in den Strudel blinder Wagnisse hinein. —
Die Bank des Barons Trottheim trat als „All-
gemeine Depositen-Bank" in's Leben.
Seiner Einrichtung, seinem Wesen und seinen Zie-
len nach war dieses Institut so ziemlich analog den
beutigen Tages so berüchtigt gewordenen „Dachauer"
Banken — nur mit dem beachtenswertsten Unterschied,
daß die Depositen-Bank des Barons ihre Operationen
mit einem anscheinend eigenen, wirklich baaren
Grundkapital von 50,000 Thalern begann. Auch
gab sie, zur Umgehung der staatlichen Genehmigung
und Kontrole, keine Aktien aus, sondern sogenannte
„Associations-Scheine" — Antheil-Scheine — die in-
dessen keineswegs al imri, sondern nur mit einem
Aufgelde von 25 bis 50 Prozent zu erlangen waren.
Dennoch schätzte das gewinngierige Publikum sich
glücklich, die Scheine mit diesem Aufschläge zu erlan-
gen, denn die Bank „garantirte" nicht weniger als
Hkst 23.
eine monatlich zu erhebende Verzinsung von 25 Pro-
zent per Anno, nebst einer von zwei zu zwei Jahren
zahlbaren Dividende von jährlich wiederum 25 Pro-
zent. Indessen war an die Verzinsung die schlaue
Bedingung geknüpft, daß die Hälfte ihres Betrages
zum Kapital geschlagen werden müsse. Was endlich
die Zurückziehung der Summen betraf, auf welche
die Associations-Scheine lauteten, so konnte dieselbe
nur nach einer vorangegangenen sechsmonatlichen Kün-
digung erfolgen — eine Bedingung, welche den Bank-
Eigeuthünur einerseits vor massenhaften Zahlungs-
verbindlichkeiten schützte und andererseits cs in seine
Hand gab, vor dem Eintritte solcher Verbindlichkeiten
zu liquidiren oder auch, unter Umständen, mit den
Fonds der Bank zu verschwinden und den Besitzern
von Associations-Scheinen das Nachsehen zu lassen.
Die Geschäfte der Bank nahmen einen vortreff-
lichen Gang. Es flössen ihr ansehnliche Kapitalien
zu, die sie zwar hoch, niit 12V- Prozent, baar ver-
zinsen und deren Beträge sie aus den Kapitalien selbst
entnehmen mußte, allein der Zweck ihres Gründers
wurde demuugeachtet vollkommen erreicht. Denn die-
ser Zweck bestand, wie sich später ergab, lediglich in
der raschen Ansammlung großer Geldsummen, theils in
Baarem, theils in leicht umzusetzenden Wertpapieren.
Vom Betriebe eigentlicher Geschäfte zuni Zwecke der
Vermehrung des Bankvermögens war keine Rede.
Der Umgang des Doktor Bräuer mit den: Baron
Trottheim schien ein rein gesellschaftlicher zu sein und
konnte nichts Auffallends haben. Wenn man hier
und da sich auch zuflüsterte, daß es mit dem Verkehr
zwischen ihm und dem Baron eine eigentümliche,
mysteriöse Bewandtniß haben müsse und man dies
durch den bemerkten Umstand motivirte, daß der Dok-
tor öfters nächtlicherweile gesehen worden, als er auf
geheimnißvolle Art sich in die Wohnung des Barons
begeben und dort Stunden lang verweilt habe, so ge-
riet doch Niemand aus eine Vermuthung über das,
was zwischen Beiden verhandelt wurde. Jedenfalls
war man weit entfernt davon, bei ihnen eine ver-
brecherische Complicität vorauszufetzen. . .
Diese in der That stattgefundenen nächtlichen und
geheimnißvollen Besuche des Doktors bei dem Baron
Trottheim zu entschleiern oder vielmehr deren Zweck
an's Licht Zu ziehen, blieb der Zukunft Vorbehalten.
Zu Anfang des Sommers 1844, wenige Wochen
vor dem zur Vermählung Evelinens bestimmten Zeit-
punkte, fiel dem jungen Schomburg, während er allein
im Zimnur des Fräuleins Nathusius verweilte, ein
Papier in die Hände, welches dort vermutlich aus
Unachtsamkeit auf dem Schreibtische dieser Dame lie-
gen geblieben war. Dasselbe enthielt von der Hand
des Fräuleins Notizen, welche den jungen Mann ganz
außerordentlich frappirten; denn es ging aus den-
selben unzweideutig hervor, daß der Doktor Bräuer
innerhalb der letztverwichenen sechs Monate mehrere
sehr bedeutende Geldposten, im Gesammtbetrage von
160,000 Thalern, von Fräulein Nathusius empfangen
hatte, während über die Veranlassung oder den Zweck
dieserZahlungen aus den Notizen nichts ersichtlich war.
Die Sache war äußerst befremdlich und Staunen
erregend, besonders wenn mau die dabei in Betracht
kommenden persönlichen Verhältnisse berücksichtigte. Vor
allen Dingen drängte sich dem jungen Manne die Frage
auf, wofür so enorme Zahlungen gemacht und unter
welchem Nechtstitel sie beansprucht worden sein konnten?
Indem Schomburg hierüber nachdachte, schöpfte
er einen Verdacht, der ihm bis dahin noch fern ge-
legen hatte. Sein kaufmännischer Instinkt sagte ihm,
daß er hier irgend einer großartigen schwindelhaften
Jntrigue des Doktors auf die Spur gekommen . . .
Wie würde cs sich fonst erklären lassen, daß das von
Geiz und Mißtrauen beherrschte Fräulein sich einer
solchen, fast die Hälfte ihres Vermögens erschöpfenden
Summe hatte entäußern können?
Der junge Mann beschloß, seine Entdeckung vor-
läufig für sich zu behalten und zunächst im Stillcn
Nachforschungen anzustelleu. Er konnte sich ja täu-
schen, und das, was ihm so verdächtig schien, konnte
vielleicht einen ganz natürlichen Zusammenhang haben.
Als er aber nach und nach zu der Ueberzeugung ge-
langte, auf diese Art nicht zum Ziele kommen zu
können, schlug er einen anderen Weg ein. Er ver-
suchte, erst direkt, dann indirekt, von Fräulein Na-
thusius Auskunft zu erlangen; allein auch hierin war
sein Erfolg kein befriedigender. Nunmehr wendete
sich Schomburg an den Doktor selbst. Er sagte ihm
offen, um was es sich handle, und daß cs ihm, mit
Rücksicht auf die verwandtschaftlichen Beziehungen, in
welche er durch seine Verhcirathnng mit Evelinen zu
Fräulein Nathusius trete, uicht gleichgiltig sein könne,
daß Letztere mit ihrem großen Vermögen auf eine
Weise schalte, welche die Befürchtung rechtfertige, daß
sie sich zu Grunde richten könnte. Einer solchen Even-
tualität aber müsse vorgebeugt werden, dies verlange
Residenz lange den Kopf darüber, welche Bewandtniß
es mit deni geheimnißvollen Fremden habe; ob er
reich oder arm, selbstständig oder abhängig, insbeson-
dere aber, welche Absichten ihn gerade nach dem stillen,
entlegenen Neuenburg geführt. Aber man erfuhr
nichts, man errieth nichts.
Plötzlich, nach Verlauf einiger Monate, trat der
Gegenstand der allgemeinen Neugier ans feiner Zurück-
gezogenheit heraus. Eines Vormittags, um die zwölfte
Stunde, sah man den Doktor Bräuer, in feinster
Visiten-Toitette, mit einem Ordensbändchen im Knopf-
leche seines Frackes, in eine elegante Miethkntfche
steigen. Ein PWkai in schwarzer Lwree, der den Wagen-
schlag schloß, empfing die nöthige Weisung, und fort
rollte die Kutsche — der Alten Albertusstcaße zu.
Zehn Minuten daraus hielt der Wagen vor dem
stattlichen Haufe des Fräuleins Nathusius.
Der Doktor übergab dem Lakai seine Karte, nm
ibn bei dem Fräulein anzumclden, und als nach fünf
Minuten der Abgesandte mit der verbindlichen Mel-
dung zurückkehrte, daß der Herr Doktor erwartet
werde, stieg dieser ans nnd ging leichten Schrittes
durch das Portal des Hauses.
Der Wagen wartete, wartete lange, offenbar weit
hinaus über die Zeit einer gewöhnlichen Visite. End-
lich, nach fast einer Stunde, kehrte der Doktor zurück,
stieg wieder ein und fuhr seiner bescheidenen Wohnung
zu. Ein blanker Thaler, den er beim Aussteigen dem
Lakaien als Trinkgeld in die Hand drückte, schien darauf
hinzudeulln, daß der Doktor mit dem Resultat seiner
absonderlich langen Visite ganz ausnehmend zufrieden sei.
Es war nicht zu verwundern, daß die mit einer
gewissen Ostentation abgestattete, auffallend lange Visite
des Doktors bei Fräulein Nathusius Aussehen erregt
hatte und der allgemeinen Neugierde neue Nahrung
gab. Alle Welt erwartete jetzt, daß der räthselhafte
Fremde nunmehr seine Zurückgezogenheit völlig aufgeben
und daß man endlich Alles erfahren werde, was man zu
erfahren schon so lange vergeblich gebrannt hatte.
Aber auch diese Erwartung wurde völlig getäuscht.
Man mußte sich mit der einen, die Wißbegier eher
noch steigernden als befriedigenden Wahrnehmung be-
gnügen, daß der Doktor von jetzt an täglich, genau
um dieselbe Stunde, seinen Besuch bei Fräulein Na-
thnsius wiederholte, jedoch stets zu Fuß und im einfachen
Ueberrock, und daß jeder dieser mysteriösen Besuche
fast immer eine Stunde, zuweilen sogar bis zwei.
Stunden in Anspruch nahm.
Was in aller Welt kann ein fremder, völlig un-
bekannter junger Manu mit dem zwar sehr reichen,
aber bizarren, geizigen, mit der Gesellschaft und nut
sich selbst grollenden alten Fräulein zu verhandeln
haben? Woher war diese seltsame, unerklärliche In-
timität zwischen Beiden, die sich, der höchsten Wahr-
scheinlichkeit nach, vorher noch niemals gesehen hatten,
entstanden? Und zu welchem Zweck Ivar sie geschlossen
worden, zu welchem Ende sollte sie führen?
So fragte man sich, aber alle diese Fragen waren in den
Wind gesprochen; Niemand fand eine Antwort darauf.
Kurz, man stand vor einem Näthsel, an dessen
Lösung die klügsten Köpfe verzweifelten, vor einem
Geheimuiß, dessen Schleier d-.m schärfsten Blicke un-
durchdringlich schien.
Selbst der Bruder des Fräuleins Nathusius, der
aiftgeklärle und welterfahrene Doktor Kreyer, strengte
sich vergeblich au, m einer Unterredung mit seiner
Schwester das tiefe Dunkel der Sache zu durch-
dringen. Alle seine Fragen, direkte od r indirekte,
wurden von ihr entweder ausweichend oder mit Ge-
meinplätzen oder gar nicht beantwortet . . .
Ein °Geheimniß zwischen Zweien, au dessen Be-
wahrung beide Theile ein dringendes Interesse haben,
läßt sich eben selten enthüllen, wenn nicht gewisse
damit verknüpfte Umstände oder irgend ein unberechen-
barer Zufall seine Entdeckung herbeiführen.
Solcher Art waren auch die seltsamen geheimniß-
vollen Beziehungen, welche zwischen dem Fräulein
Nathusftrs und dem Doktor Bräuer bestanden und
sich so entschieden der Erforschung jedes Uneingeweih-
ten entzogen.
Wiederum waren einige Wochen verstrichen, man
befand sich im Winter des Jahres 1843.
Da trng sich plötzlich ein Ereigniß zu, welches
dem Gange unserer Geschichte eine neue Richtung gab
und zur Grundlage ihrer späteren, von der Nemesis
heraufbeschworenen Entwickelung wurde.
Fräulein Nathusius hatte ihre reiche und schöne
Nichte Eveliue mit dem Sohne eines angesehenen
Kaufmannes verlobt.
Der Bräutigam, Hermann Schomburg, war
ein in jeder Beziehung achtungswerther junger Mann
und des hohen Glückes würdig, an der Hand Eve-
linens den Weg durch's Leben zu betreten. Und da
man wußte, daß das Bündniß der Verlobten lediglich
aus gegenseitiger Zuneigung hervorgegaugen, so wurde
Das Buch für AllZ.
dem Glücke derselben selbst von Denjenigen Beifall
gezollt, die sich angeregt hätten fühlen können, es zu
beneiden oder mit mißgünstigen Augen anzusehen. —
Fräulein Nathusius hatte, im Einvernehmen mit
den Eltern des Bräutigams, bestimmt, daß die Ver-
mählungsseier des jungen Paares nach Ablauf von
drei Monaten stattfiuden solle. Diese Bestimmung
änderte sie jedoch alsbald dahin ab, daß sie den Zeit-
punkt der Vermählung um sechs Monate hinausschob.
Die Gründe, welche sie hiesür geltend machte, waren
zwar wenig stichhaltig, indessen fanden sie von Seiten
der Betheiligten keinen erheblichen Wfterspruch. Man
betrachtete diese Abänderung als das Ergebniß einer
Laune des wunderlichen und eigensinnigen alten Fräu-
leins nnd hielt es für angemessen, ihre Schwächen
mit Nachsicht zu behandeln . . . Niemand, weder Eve-
line, noch deren Verlobter, noch dessen Eltern hatten
eine Ahnung davon, daß hier etwas Anderes als die
bloße Laune des bizarren Fräuleins im Spiele sei; —
es war der Wille des Doktors Bräuer, der hier wirk-
sam gewesen, und den er durch seinen Einfluß auf
Fräulein Nathusius zur Geltung gebracht hatte.
Nachdem auf diefe Weise die eheliche Vereinigung
der beiden Verlobten um ein halbes Jahr in die Ferne
gerückt worden, benutzte der geheimnißvolle Fremde
feine täglichen Besuche im Haufe des Fräuleins Na-
thusius dazu, sich dem dort ebenfalls häufig anwesen-
den Bräutigam Eveliueus zu nähern. Das Entgegen-
kommen des Doktors, unterstützt durch sein verbind-
liches, einschmeichelndes und doch auch vorsichtig takt-
volles Benehmen, sowie durch die hohe Achtung, mit
welcher Fräulein Nathusius ihn auszeichnete, fand
denn auch von Seiten des jungen Herrn Schomburg
die erwünschte Erwiederung. Und so bildete sich
zwischen beiden jungen Männern rasch ein freund-
sckaftliches Verhältniß, welches von dem Verlobten
ausis Zuvcrkommeudfte gepflegt wurde, während der
Doktor es sich angelegen sein ließ, sich im Vertrauen
desselben festzusetzen.
Ueber seine Beziehungen zu Fräulein Nathusius
machte der Doktor, im Einverständniß mit derselben,
seinem jungen Freunde in anscheinend vertraulicher
Weise solche Mittheilungen, welche zwar aller Wahr-
heit entbehrten, aber doch geschickt genug erfunden
waren, um für Wahrheit hingenommen zu werden ...
Um dieselbe Zeit verkehrte der Doktor Bräuer
auch noch mit einem Fremden, einem Kurländer, der
erst vor einigen Wochen in Neuenburg, anscheinend
dauernd, sich niedergelassen hatte.
Dieser Fremde, der sich Baron v. Trottheim
nannte, machte viel von sich reden durch den Auf-
wand, den er trieb und der einen ansehnlichen Reich-
thum voraussetzeu lfiß. Vollends aber erregte der
Baron die allgemeinste Aufmerksamkeit durch ein
Unternehmen, mit dessen Gründung er sich beschäftigte.
Er etablirte eines jener ephemeren Geld-Institute,
welche in der neuesten Zeit durch ihre an's Licht ge-
tretene Schwiudelhaftigkeit so stark in Verruf gekom-
men, damals aber — im Jahre 1843 — noch als
ein Wunder weltbeglückenden finanziellen Spekulations
geistes angestaunt wurden und, angelockt von den bis
dahin unerhört gewesenen scheinbaren Vortheileu, die
das Unternehmen gewährte, reißende Betheiligung
fand von Seiten Aller, die nach schnellem und leich-
tem Gewinn dürsteten.
Das erst später allgemein gewordene Haschen und
Jagen nach mühelosim Gelderwerb hatte damals noch
nicht alle Schichten der Gesellschaft durchdrungen;
die Geldfpekulation war so zu sagen noch Monopol
der anerkannten Finanziers, und der kleine Kapitalist,
der heute zu seinem Schaden seine sauer erworbene
Habe in fieberhaft erregter Habgier leichtfertig auf's
Spiel setzt, dachte im. Entferntesten noch nicht daran
auch nur einen Groschen anders, als gegen die un-
zweifelhafteste Sicherheit herzugeben. Die Aussicht
auf hohen, aber ungewissen Gewinn hatte noch keinen
Reiz für ihn. Erst die ost wiederholten Beispiele
schnell reich gewordener sogenannter „kleinen Leute" rissen
auch ihn in den Strudel blinder Wagnisse hinein. —
Die Bank des Barons Trottheim trat als „All-
gemeine Depositen-Bank" in's Leben.
Seiner Einrichtung, seinem Wesen und seinen Zie-
len nach war dieses Institut so ziemlich analog den
beutigen Tages so berüchtigt gewordenen „Dachauer"
Banken — nur mit dem beachtenswertsten Unterschied,
daß die Depositen-Bank des Barons ihre Operationen
mit einem anscheinend eigenen, wirklich baaren
Grundkapital von 50,000 Thalern begann. Auch
gab sie, zur Umgehung der staatlichen Genehmigung
und Kontrole, keine Aktien aus, sondern sogenannte
„Associations-Scheine" — Antheil-Scheine — die in-
dessen keineswegs al imri, sondern nur mit einem
Aufgelde von 25 bis 50 Prozent zu erlangen waren.
Dennoch schätzte das gewinngierige Publikum sich
glücklich, die Scheine mit diesem Aufschläge zu erlan-
gen, denn die Bank „garantirte" nicht weniger als
Hkst 23.
eine monatlich zu erhebende Verzinsung von 25 Pro-
zent per Anno, nebst einer von zwei zu zwei Jahren
zahlbaren Dividende von jährlich wiederum 25 Pro-
zent. Indessen war an die Verzinsung die schlaue
Bedingung geknüpft, daß die Hälfte ihres Betrages
zum Kapital geschlagen werden müsse. Was endlich
die Zurückziehung der Summen betraf, auf welche
die Associations-Scheine lauteten, so konnte dieselbe
nur nach einer vorangegangenen sechsmonatlichen Kün-
digung erfolgen — eine Bedingung, welche den Bank-
Eigeuthünur einerseits vor massenhaften Zahlungs-
verbindlichkeiten schützte und andererseits cs in seine
Hand gab, vor dem Eintritte solcher Verbindlichkeiten
zu liquidiren oder auch, unter Umständen, mit den
Fonds der Bank zu verschwinden und den Besitzern
von Associations-Scheinen das Nachsehen zu lassen.
Die Geschäfte der Bank nahmen einen vortreff-
lichen Gang. Es flössen ihr ansehnliche Kapitalien
zu, die sie zwar hoch, niit 12V- Prozent, baar ver-
zinsen und deren Beträge sie aus den Kapitalien selbst
entnehmen mußte, allein der Zweck ihres Gründers
wurde demuugeachtet vollkommen erreicht. Denn die-
ser Zweck bestand, wie sich später ergab, lediglich in
der raschen Ansammlung großer Geldsummen, theils in
Baarem, theils in leicht umzusetzenden Wertpapieren.
Vom Betriebe eigentlicher Geschäfte zuni Zwecke der
Vermehrung des Bankvermögens war keine Rede.
Der Umgang des Doktor Bräuer mit den: Baron
Trottheim schien ein rein gesellschaftlicher zu sein und
konnte nichts Auffallends haben. Wenn man hier
und da sich auch zuflüsterte, daß es mit dem Verkehr
zwischen ihm und dem Baron eine eigentümliche,
mysteriöse Bewandtniß haben müsse und man dies
durch den bemerkten Umstand motivirte, daß der Dok-
tor öfters nächtlicherweile gesehen worden, als er auf
geheimnißvolle Art sich in die Wohnung des Barons
begeben und dort Stunden lang verweilt habe, so ge-
riet doch Niemand aus eine Vermuthung über das,
was zwischen Beiden verhandelt wurde. Jedenfalls
war man weit entfernt davon, bei ihnen eine ver-
brecherische Complicität vorauszufetzen. . .
Diese in der That stattgefundenen nächtlichen und
geheimnißvollen Besuche des Doktors bei dem Baron
Trottheim zu entschleiern oder vielmehr deren Zweck
an's Licht Zu ziehen, blieb der Zukunft Vorbehalten.
Zu Anfang des Sommers 1844, wenige Wochen
vor dem zur Vermählung Evelinens bestimmten Zeit-
punkte, fiel dem jungen Schomburg, während er allein
im Zimnur des Fräuleins Nathusius verweilte, ein
Papier in die Hände, welches dort vermutlich aus
Unachtsamkeit auf dem Schreibtische dieser Dame lie-
gen geblieben war. Dasselbe enthielt von der Hand
des Fräuleins Notizen, welche den jungen Mann ganz
außerordentlich frappirten; denn es ging aus den-
selben unzweideutig hervor, daß der Doktor Bräuer
innerhalb der letztverwichenen sechs Monate mehrere
sehr bedeutende Geldposten, im Gesammtbetrage von
160,000 Thalern, von Fräulein Nathusius empfangen
hatte, während über die Veranlassung oder den Zweck
dieserZahlungen aus den Notizen nichts ersichtlich war.
Die Sache war äußerst befremdlich und Staunen
erregend, besonders wenn mau die dabei in Betracht
kommenden persönlichen Verhältnisse berücksichtigte. Vor
allen Dingen drängte sich dem jungen Manne die Frage
auf, wofür so enorme Zahlungen gemacht und unter
welchem Nechtstitel sie beansprucht worden sein konnten?
Indem Schomburg hierüber nachdachte, schöpfte
er einen Verdacht, der ihm bis dahin noch fern ge-
legen hatte. Sein kaufmännischer Instinkt sagte ihm,
daß er hier irgend einer großartigen schwindelhaften
Jntrigue des Doktors auf die Spur gekommen . . .
Wie würde cs sich fonst erklären lassen, daß das von
Geiz und Mißtrauen beherrschte Fräulein sich einer
solchen, fast die Hälfte ihres Vermögens erschöpfenden
Summe hatte entäußern können?
Der junge Mann beschloß, seine Entdeckung vor-
läufig für sich zu behalten und zunächst im Stillcn
Nachforschungen anzustelleu. Er konnte sich ja täu-
schen, und das, was ihm so verdächtig schien, konnte
vielleicht einen ganz natürlichen Zusammenhang haben.
Als er aber nach und nach zu der Ueberzeugung ge-
langte, auf diese Art nicht zum Ziele kommen zu
können, schlug er einen anderen Weg ein. Er ver-
suchte, erst direkt, dann indirekt, von Fräulein Na-
thusius Auskunft zu erlangen; allein auch hierin war
sein Erfolg kein befriedigender. Nunmehr wendete
sich Schomburg an den Doktor selbst. Er sagte ihm
offen, um was es sich handle, und daß cs ihm, mit
Rücksicht auf die verwandtschaftlichen Beziehungen, in
welche er durch seine Verhcirathnng mit Evelinen zu
Fräulein Nathusius trete, uicht gleichgiltig sein könne,
daß Letztere mit ihrem großen Vermögen auf eine
Weise schalte, welche die Befürchtung rechtfertige, daß
sie sich zu Grunde richten könnte. Einer solchen Even-
tualität aber müsse vorgebeugt werden, dies verlange