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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 23.1888

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Heft 6
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146

Das Buch für Allo.

n dm
Zuchthaus brachte, war mein Name, mein
Zeugniß verwickelt," rief der Oberförster.
„Ist cs nicht natürlich, daß die schweifende
Phantasie immer wieder zu diesem Punkte zn-
Daß man eine geheime Unruhe empfindet?

Geschlecht M Geschlecht.
Roman
von
W. Höffer.
(ffortictzmm.)
(Nachdruck verdaten.)
Prozeß, der Adrian Moller in's

rückkehrt? .. „ ...
Der Wunsch, mich mit jenem Manne auszusöhncn, ist doch
auf jeden Fall eine Folge der Gewissensbcunrühignng. —
Aber wie? wie? Ich grüble darüber forUvührend, mir
fehlt der Schlaf der Nacht und die Ruhe des Tages eben
dieser mysteriösen Geschichte wegen. Dazu treibt und
drängt unaufhörlich mein einziger Sohn, zwischen ihm
und mir erweitert sich täglich die Kluft, über welche
keine Brücke mehr geschlagen wird. Wilhelm möchte
für seine Zukunft das enorme Vermögen des Herrn
v. Wardcck gesichert wissen, er nennt mich einen lieb-
losen Vater, die stille Zufriedenheit meines Hauses, die
innigen, herzlichen Beziehungen zwischen meinem Jungen
und mir, das Alles ist dahin!"
Eine Handbcwcgnng des Juristen schien zu sagen:
„Ich begreife vollständig!" aber die Lippen schwiegen.
Als erfahrener Menschenkenner wußte der Justizrath,
daß es ganz vergeblich sein würde, den Oberförster zur
Annahme der verhaßten Testa mcntsklausel überreden
zu wollen, er versuchte es daher nicht erst, sondern
sagte nur einige beruhigende Worte und fügte dann
hinzu: „Sie müssen eben das schlimme Geschick bis
zum nächstem Herbst geduldig ertragen, Herr Ober-
förster. Wenn dann Ihre Antwort definitiv verneinend
ausgefallen ist, so hört die Angelegenheit auf, eine
Frage zu sein, und damit haben Sie dann schon viel
gewonnen. Jede Entscheidung, auch die schlimme, bringt
wenigstens einen Stillstand hervor; man beruhigt sich
und lernt cs, den beherrschenden Gedanken nach und
nach abzufchüttcln."
Der Oberförster stützte den Kopf in die Hand. „Und
doch gäbe es ein Mittel, ein einziges, um der Sache
ans den Grund zu sehen," sagte er halblaut.
Der Jurist verstand ihn sofort. „Sie meinen
Wardcck's Brief, nicht wahr?"
„Ja! Wüßte ich, was darin steht, so ließe sich
wahrscheinlich aus dem Inhalte dieser Zeilen auf alles
Uebrige mit Sicherheit schließen."
„Das ist anzunehmcn."
„Und trotzdem verweigern Sie mir beharrlich die
Kenntniß dieses Schriftstückes, Herr Justizrath? Auch
jetzt noch, nachdem ich Ihnen offen sagte, daß der Un-
friede in mein Haus cingezogen ist, daß ich wahr-
haftig auf und davon gehen möchte, nur um jener un-
ablässigen Quälereien willen!"
Wilbrandt seufzte. „Ich erkenne das Alles," versetzte
er, „aber ohne Ihnen helfen zu können. Mich bindet
mein Eid."
„Nur in gewisser Beziehung, denke ich! Sie haben
geschworen, mir den Brief erst dann zu geben, wenn
die Bedingungen des Erblassers erfüllt sind, nicht
wahr? Nun, diesen Eid können Sie halten, das Blatt
bleibt in Ihrem ungestörten Besitz, aber den Inhalt
desselben lesen Sie mir vor."
Der Justizrath lächelte. „Eine kleine Wortklauberei,"
sagte er. „Aber selbst wenn ich mich jemals entschließen
könnte, in einen derartigen Handel zu willigen, so ist
doch die Sache hier unmöglich. Ich habe geschworen,
daß, erfüllen Sie die Bedingungen nicht, der Brief
ungelesen — hören Sie Wohl, Herr Oberförster, un-
gelesen! — vernichtet werde."
„Ah, dann hat sich also Herr v. Wardeck auf alle
Fälle sichern wollen?"
„Höchst wahrscheinlich. Ich kann Ihnen den Brief
weder ausliefern, noch von seinem Inhalte selbst Kennt-
niß nehmen."
Kleeberg wiegte den Kopf; er schien von dem ein-
mal erfaßten Gedanken nicht fo leicht wieder ablassen
zu wollen. „Ob cs überhaupt rechtlich möglich ist,
daß ein mir bestimmtes und mit meiner Adresse ver-
sehenes Schreiben mir willkürlich vorcnthalten wird?"
fragte er. „Was meinen Sic dazu, Herr Justizrath?"
"Wilbrandt lachte. „Das ist ein Ausweg!" rief er.
„Strengen Sie einen Prozeß gegen mich an, Herr
Oberförster. Vielleicht gelingt Ihnen die Sache."
„Sehen Sie mir einmal offen in's Auge! Halten
Sie das für möglich?"
Der Justizrath schüttelte den Kopf. „Nie und
nimmer, Herr Oberförster! Sie müssen sich ruhig er-
geben, cs bleibt Ihnen nichts Anderes übrig."
Klecbcrg stand auf. „Das ist ein Unglück!" senfzte
er. „Noch zehn Monate! Bis dahin hat mich die
beständige Aufregung nm den Verstand gebracht."
„Sie müssen die Sache zu vergessen suchen. Ihre


väterliche Autorität zwingt den jungen Herrn, wenig-
stens zu schweigen, wenn er denn durchaus den Grün-
den seines Vaters keine Rechnung tragen will."
„Zwingt! Zwingt! Das ist es ja eben. Durch
unser Zusammenleben geht das Wort wie ein zwei-
schneidiges Schwert, es hat alles Familicnglück, allen
heimathlichcn Frieden zerstört."
Das Gesicht des Jnstizrathcs war sehr ernst ge-
worden. „Ich sagte es Wardcck in seiner letzten Lebens-
stunde! Ich bat ihn, nicht die Brandfackel unter ein
friedliches Dach zu schleudern, aber meine Ermahnungen
Verhallten ungehört."
„Was antwortete er Ihnen? Womit begründete
er seine Handlungsweise? Denken Sie nach, Herr
Jnstizrath, denken Sie nach!"
„Er sagte einfach: ,Jch kann nicht anders! Ich
muß so handeln!'"
Klecbcrg legte die Hand auf den Arm des Juristen.
„Sehen Sie wohl!" rief er. „Sehen Sie wohl! Das
Ganze war für den Verstorbenen eine Gewissenssache
nnd nichts Anderes. Aber wie komme ich in diesen
schlimmen Handel hinein? Was kümmert cs mich,
daß Wardcck nnd Möller Geheimnisse hatten, die auf
das Leben des Einen oder Anderen ihre schwarzen
Schatten warfen?"
Er ging mit großen Schritten im Zimmer auf und
ab. „So von außen nnd innen unablässig bedrängt,"
seufzte er, „es ist nicht zum Aushalten. Man möchte
die Pistole von der Wand nehmen nnd sich eine Kugel
vor den Kopf schießen."
„Thorheit!" warf der Justizrath ein. „Thorheit,
Herr Oberförster! Wie eine Gcwissenssache erschien
allerdings auch mir das Ganze vom ersten Augenblick
an, aber doch nur wie eine solche, die den verstorbenen
Wardcck betraf, nicht Sic, der bei dem fatalen Handel
nur das Werkzeug bildet. Suchen Sie das gute Ein-
vernehmen mit Ihrem Sohne wieder herzustellcn und
vergessen Sie den Zwischenfall. Einen besseren Rath
könnte ich Ihnen wirklich nicht geben."
„Das gute Einvernehmen mit meinem Sohne ist
dahin für immer," sagte Klceberg düsteren Tones.
„Wenn ich in das Zimmer trete, geht Wilhelm hinaus,
wenn ich am Tische sitze, kommt er nicht dahin, ja, er
hat cs fo cinzurichten gewußt, daß wir zu verschiedenen
Stunden unsere Mahlzeiten einnehmen, er betrachtet
und behandelt mich wie seinen Todfeind."
„So würde ich ihn aus dem Hause entfernen.
Lassen Sic den jungen Herrn einmal versuchen, wie das
Brod in der Fremde schmeckt, dann wird er vielleicht
zahn:."
„Auch das wäre eine aussichtslose Gewaltmaßregcl.
Wenn ich nur den Brief lesen könnte, wenn ich nur
wüßte, welch' ein düsteres Geheimniß dies Couvert
umschließt, dann ließe ich alles Uebrige noch gelten.
Aber Sie können mir das Schreiben nicht überliefern,
ich weiß es, ich weiß cs."
„Das freut mich!" sagte der Justizrath. „Sehen
Sie, solch' ein Eid ist ein unsichtbares Band, es hält
fester als alle übrigen. Ich kann weder Ihnen den
Brief in die Hand legen, noch ihn selbst lesen."
Der Oberförster bot ihm traurig lächelnd die
Rechte. „Leben Sie Wohl!" sagte er. „Es ist ein hartes
Schicksal, welches mich betroffen hat, aber ich muß es
geduldig tragen, kein Bitten oder Zürnen kann mir
helfen."
„Glauben Sie cs mir, alter Freund, ich wollte
viel darum geben, wenn ich Ihnen den Brief überlassen
dürfte, so oft schon habe ich das gedacht, so oft auf
einen Ausweg gesonnen, aber —"
Und ein Achselzucken vollendete den Sah.
Sie trennten sich Beide seufzend. Der Jnstizrath
ging wieder an das Fenster nnd sah in's Leere; vor
seiner Seele stand in lebhaften Farben das Bild eines
Traumes, desselben sonderbaren Traumes, der ihn im
Morgengrauen dieses Tages beschäftigt und seitdem
nicht mehr verlassen hatte.
Er saß, so hatte ihn: geträumt, an seinen: Schreib-
tisch, hier in diesem Zimmer, und in der Hand hielt
er jenen Brief mit den feinen charaktervollen Schrift-
zügen und den: großen rothen Siegel; er dachte an
einen Verrath, seine Seele spielte mit der Ausführung
eines solchen. Ein Messer, etwas erwärmt, in das
Siegel geschoben — und die Hülle zerreißt. Dasselbe
Experiment schließt sie wieder, aber inzwischen hatte
man Zeit zu lesen, das Geheimniß ist kein solches
mehr. Sollte er den gordischen Knoten zerhauen?
Sollte er Licht in das lastende Dunkel bringen?
Da legte sich auf feine Schulter eine Hand, ganz
leicht und ohne Druck. Verwundert wandte er den
Blick.
Hinter ihm nut erhobener Hand stand Herr v.
Wardeck. Die Augen fest auf sein Gesicht heftend, sagte
er mit gewohnter ruhiger Stimme: „Ich versprach
Ihnen ja ein Zeichen, Jnstizrath! — Hier ist es
nun!"
lind dann verschwand Plötzlich die Erscheinung.
Wilbrandt war erwacht, wie von einen: Geräusch jäh-
lings erschreckt, er murmelte noch halblaut: „Der

Htst l>.

Brief! Der Brief!" als schon seine Augen weit offen
in das Dämmergrau des beginnenden Tages hinein-
sahen, er fühlte eine Aufregung, die selbst jetzt noch
nicht Weichen wollte.
Seltsam! Seltsam! Ganz als ob ihn der Todtc
überwache. Sah wirklich aus unbekannten Welten sein
Ange herüber und behütete das Geheimnis;?
„Ihn: habe ich den Eid geleistet," dachte der Justiz-
rath, „aber gewiß ist, daß ich ihn jetzt auch mir selbst
leiste. Der Brief wird ungelesen vernichtet."

Klecbcrg kau: an diesen: Tage erst spät nach Hanse.
Ihn: graute vor den öden, von der kühlen Herbstluft
durchschauertcn Zimmern, in denen der Holzwurm: emsig
die Täfelung zernagte und wo jeder Schritt widerhalltc,
wie in einem Gewölbe. So einsam, so dunkel war das
Haus seit vielen langen Jahren, aber gerade in letzterer
Zeit hatte doch ein Sonnenstrahl hindurchgeleuchtct, als
Wilhelm nach gut bestandenen: Examen znrückkam, als
der junge, frisch in's Lebei: blickende Mann der Freund
und Gefährte seines Vaters wurde, als sie einander so
prächtig verstanden nnd so herzlich liebten. Das war
nun Alles dahin.
Erst stummes Auscinandcrgehcn, dann bittere, lei-
denschaftlich hervorgcstoßcne Worte, nnd zuletzt der
Groll, der Zorn.
Der Oberförster setzte sich in die Sophaccke. Von
draußen fiel der Schimmer einer Straßenlaterne in das
Zimmer hinein nnd malte geschäftig an den Wänden
allerlei Schnörkel. Wie Blitze beleuchteten die zucken-
den Streifen bald hier eine Parthie des Zimmers, bald
dort die andere, zuletzt blieb ein Heller Schein wie ge-
bannt auf einen: lebensgroßen Bilde liegen, er nin-
fluthete goldig ein Müdchenantlitz mit tiefen, treuen
Augen und reiner Stirn. Ein liebes Gesicht war cs,
gut und sanft, aber gewöhnlich, ohne höheren Reiz:
Anna, die unglückliche, in: Jrrenhanse lebende Fran
des Oberförsters.
Er sah empor zu den: Bilde, eine unbeschreibliche,
nicht zu bekämpfende Bitterkeit durchfluthetc sein In-
neres. Er sah hin, bis ein Etwas seine Blicke ver-
dunkelte, bis es ihn: in der Brust sonderbar eng wurde
und glühend heiß zugleich.
Thräncn? — Thränen ii: den Augen des herkuli-
schen Mannes? Thränen ii: dem Weißen Barte?
Er legte still das Gesicht in die Hände. Ja, er
weinte.
Alles hatte er verloren, das Eine nach den: Anderen.
Um jedes Recht hatte ihn das Leben betrogen. Wie
Weh that die Erlcnntniß!
Dann wurde die Hausthüre geöffnet und Wilhelm
ging nach oben ii: sein eigenes Zimmer..
„Bringen Sie nur das Abendessen herauf!" sagte
er noch von der Treppe her der alten Haushälterin.
„Herr Kleeberg!" raunte diese, „junger Herr. Der
Papa ist drinnen."
„Einerlei. Es bleibt bei dem, was ich sagte."
Der Oberförster hatte Alles gehört. Sein Sohn
wollte nicht mehr an einen: und demselben Tische mit
ihn: essen, er wußte cs längst.
Wieder verdeckte er die Augen mit der Hand. Oben
ging Wilhelm rastlos auf und ab, auch als ihn: die
Alte Schüsseln und Teller gebracht hatte. Er aß nicht,
er setzte sich nicht einmal hin, seine Seele war unfähig,
den einen, den beherrschenden Gedanken auch nur auf
Augenblicke zu verlassen.
Zwei Millionen! Zwei Millionen!
Alle Seligkeit der Erde, all' ihr Gewähren und
Beglücken liegt ja im Gcldc, in der Flnth des ge-
münzten Metalles.
Für die Jugend wenigstens, für das unerfahrene,
ungeprüfte Mcnschenhcrz. Wer auf der Mittagshöhe
seiner Tage steht, der hat längst den Jrrthum erkannt.
Auf jeden Schritt seines Sohnes horchte der Vater.
Keine Ruhe da oben, keine noch so kurze Rast. Er
ertrug cs nicht länger.
Die Alte mußte im Zimmer die Fenster verhülle::
nnd eine Lampe entzünden, dann trug er ihr auf, ihn:
den Sohn hernntcrzuholen. Möglichst gelassen sagte er
das, möglichst unbefangen.
Etwas später erschien Wilhelm. So schlimm war's
noch nicht, daß er den: Vater offen getrotzt hätte, aber
sein hübsches Gesicht zeigte eine eisige Kälte, sein Gruß
ging über die bloßen Grenzen der Höflichkeit nicht
hinaus.
„Du wolltest mich sprechen, Vater?"
„Ja, mein Junge. Setze Dich zu mir!"
„Ich höre auch so, was Du nur zu sagen hast."
„Stehend?" fragte etwas scharf der Oberförster.
,/Ä^-"
„O Wilhelm, Wilhelm, kannst Du diesen Ton vor
Deinen: Gewissen verantworten? — Um Deinetwillen
thut mir's Weh."
Der Sohn zuckte die Achseln. „Weshalb spielen
vernünftige Menschen miteinander Komödie?" sagte
er. „Du liebst mich nicht, ich bin für Dich der gleich-
giltigste Mensch nntcr der Sonne, also laß doch alle
Tiraden, allen Schein bei Seite."
 
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