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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 31.1896

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Heft 10
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https://doi.org/10.11588/diglit.43357#0244
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334

Das Bugd jür 4

Heft 10.

„Madame beſehlen?“ fragte er.

Einen Abſynth,“ antwortete ſie tapfer.

Nach einer Weile brachte der Mann das SGetränfk.

„Mein Freund,“ ſagte ſie ihm etwas leifer, „Sie
bekommen fuͤnf Franken, wenn Sie mir Ihren Kollegen
Monfieur Baptiſte Didot auf einen Augenblick her-
ſchicken.“

Der Kellner ſah ſie etwas überraſcht an. Bettine,
die ſorgfältig jeden Schmuck, jede beſfere Toilette weg-
gelaſſen hatte, mochte ihm den Eindruck einer kleinen,
huͤbfchen Nähtexin machén. Eine kleine Liebſchaft oder
Aehnliches, dachte er.

Soͤfott, Mtadame, ſofort!“ antwortete er und lief
wieder fort, um ſeine fünf Franken ſo raſch wie möglich
zu verdienen.

Es dauerte eine ziemliche Weile, ehe er wieder er-
ſchien. Bettine ſah manchmal, wie er am Buffet ſtand
und irgend etwas fragte, wie er hier und doxt im
Qofal herumſuchte — ſie ſaß wie auf Kohlen. Wenn
ſie Aufſehen erregte, nur den kleinſten Verdacht auf
ſich oder den ſogenannten Baptiſte Didot zog, was
für unberechenbare Unfälle konnten unter dem wüſt
aufgeregten Volk entſtehen! In dieſem Augenblick be-
reute ſie ſchwer, überhaupt hierher gegangen zu ſein.


fehen und ſprechen durften. Was befugte ſie, ſeine
geheimen Wege zu kreuzen? Was konnte Alles daraus
entſtehen?

Endlich kam der Kellner zuxück.

Bedaure ſehr,“ ſagte er gleichgiltig und geſchäfts-
maͤßig, „aber Monſieur Didot iſt heute Nachmittag aus
_ Dem Geſchäft fortgegangen und bisher noch nicht wieder
zurückgekehrt.“

Foͤrt war er wieder. Bettine fiel ein Stein vom
Herzen. Sie athmete erleichtert auf und flüſterte un-
willkürlich: „Gott ſei Dank!“

Sie ließ ihr Getränk unberührt ſtehen und machte ſich
ſo raſch und ſo unauffällig wie möglich wieder davon.

Vierundözwartzigſtes Kapitel.

Je härter nun die Wintexſtrenge auftrat, um ſo
lebhaͤfter gedachte man auch in Deutſchland dex im Fe:de
ſtehenden Truppen, und je häufiger und länger die
Verluſtliſten in den Zeitungen publizirt wurden, um
jo ſtürmiſcher und gewaltiger wurde die Sehnſucht nach
dem Frieden! Immer ſchoͤner erſchien er und immer
hoͤher lernte man ihn ſchätzen, der ſich gerade in
Kriegszeiten als das höchſte Gut einex Nation fühlbar
macht. Weihnachten ſtand vor der Thüx. In allen
Familien arbeiteten die Frauenhände an allen möglichen
_ nüßlichen oder überflüſſigen Geſchenken für ihre Lieben
im'Felde, aber man wußte ja nicht einmal, ob der,
für den man die Gaben vorbereitete, noch am Leben
fei, oder noch leben würde, wenn Weihnachten kam.

Lie mancher Seufzer, wie manche Thräne wurde mit
eingewebt in das Gewebe der Fingerchen, die xaſtlos
mit Nadel und Scheere befliſſen waren, dem Gefühl
des Herzens Ausdruck zu geben.

Schon am 1. Dezember hatte man in Burgſaßhauſen
durch die Zeitung erfahren, daß ſich ein großer Ausfall
der Pariſer Beſatzung gegen die Stellungen der Sachſen

und Württemberger richke. In den folgenden Tagen
wurden Einzelheiten befannt, und auf dem Gutshof
in Burgſaßhauſen las man ſchon am 3. Dezember
Abends,daß das Regiment, bei dem Hauptmann Wein-
hold und die meiſten der aus dem Ort Ausgerückten
ſtanden, vom 30. November bis 2 Dezember Abends
einen Geſammtverluſt von faſt ſiebenhundert Mann er-
litten habe.

Fraͤu Weinhold ſaß mit ihrer Schweſtex, die ſeit

einiger Zeit wieder auf dem Gutshof wohnte, weil es


ſammen. Wenn der Briefträger auf dem Hof erſchien,


fraͤgen, was cr gebracht habe. Wenn es ſich dann
herausſtellte, daß es wieder keine Nachricht von der
Armee war, ſo paßten ſie auf, in welche Häuſer der
Mann weiter ging, um ſeine Beſorgungen zu machen,
und Leonore mußte nachher ausforſchen, ob Nachrichten
von Brie und Champigny eingegangen ſeien. So ver-
dingen der 4. und der 5. Dezember. Jede Stunde
wurde zur Qual. ;

Endlich am Abend des Fünften erfuhr Leonore, daß
Frau Heinrich von ihrem Mann, der in Le Bourget
jtand, wo daͤs Gardekorps ebenfalls harte Kämpfe zu
beſtehen gehabt, eine Poſtkarte bekommen habe. Die-
ſelbe machte natürlich ſofort in ganz Burgſaßhauſen die
Runde und kam auch auf den Gutshof. Frau Wein-
hold las ſie. Sie lautete:

„Liebes Lieschen!

Ich befinde mich noch immer wohl. Die Socken
und Pulswärmer, die Du mir geſchickt, habe ich noch
nicht bekommen und könnte ſie doch gerade jetzt ſo gut
brauchen. Wir frieren auf Poſten ganz mörderlich.
Geſtern und am 30. November iſt es bei Champigny
und Brie und Villiers ſehr heiß zugegangen. Die
Sachſen, Württemberger und Pommern haben es mit


über hunderttauſend Franzoſen zu thun gehabt und ſollen
fürchterliche Verluſte gehabt haben. Hoffentlich iſt Keinex
aus' Burgſaßhaufen darunker. Wir haben natürkich
wieder geſiegt und die Franzoſen wieder in ihr Neſt
hineingeivoͤrfen. Wie lange das noch ſo fort geht, weiß
lein Menfch. Wir müſſen uns Alle tröſten. Viele
Grüße und Küſſe für Dich und den Jungen von Deinem
Adolph.“

Das war Alles. Die Karte war am 3. Dezembex
früh aufgegeben. Der Schreiber konnte alſo auch noch
nicht mehr melden, als waͤs ſie ſchon aus dex Zeitung
wußten. Die Befürchtungen ſtiegen auf's Aeußerſte.
War denn von all' denen, die aus dem Dorfe ſtammten,
nicht Einer davongekommen, der über ſeine Kameraden
hätte in die Heimath berichten können?

Es vergingen wieder zivei Tage — kein Sterbens-
wort. Der alte Häſſel ſaß am Abend des 7. Dezember
in der Linde mit Anderen zuſammen und nickte mur
immer ſtumm und ſchwer vor ſich hin, als wollte er
ſagen: „Nun werden ſie ja wohl auch inne werden,
wie mir's zu Muthe iſt.“

Und endlich am 8. Dezember Abends kam die erſte


in Burgſaßhauſen an. Der Brieſträger brauchte an
dieſem Abend nicht im Dorfe herumzulaufen, die Leute
kamen Alle zu ihm auf die Straße. Wie ein Lauf-
feuer hatte fich die Kunde verbreitet, und wer Briefe
von Paris erwartete, ſtürzte ihm entgegen, wo er ſeinex
zuerſt habhaft werden konnte. Freilich, Mancher ſchlich
betruͤbt' und ſchluchzend wieder davon, wenn der Brief-
träger einfach ſagke: „Nichts, nichts!“ Und wie haſtig
griffen ſie zu, wenn er ſagte: „Hier ein Brief, zwei
Briefe, eine Poſtkarte.“

Frau Weinhold gab gerade das Abendeſſen an die
Leuté aus, als Leonoͤre haſtig gelaufen kam.

„Ein Brief vom Vater! Ein Brief, Mutter! Aus
Verſailles.“

Zeig' her, Leonore! Weshalb weinſt Du? Was iſt?“

„Bon Maͤr iſt nichts miigekommen,“ meinte dieſe.

„Jenun, Mar iſt Arzt. Er hat zu viel zu thun. Er


Zeig' her. Ja, das iſt Moritzens Hand. Gott im
Himmel ſei Dank. Wenn er ſchreibt, kann es doch
nicht ganz ſchlecht ſtehen.“

Bitternd vor Aufregung erbrach ſie das Schreiben
und las:

Verſailles am 5. Dezember 1870.
Geliebte Thereſe!

Obwohl ich weiß, wie ſehr Du Dich gerade jeßt
nach Nachrichten von uns ſehnſt t es mir doch erſt
jetzt möglich, einige Zeilen an Dich zu richten. Aus
den Zeikungen wirſt Du ſchon wiſſen, daß wir am
30. Rovember und 2. Dezember wieder zwei fürchtexliche
Schlachten geſchlagen haben. Alſo vor Allem das Eine:
Mich ſelbſt hat der liebe Herrgott diesmal gnädig vor
jedem Unfall befchüßt. Ich bin trotz der großen Gefahr
und der unmenſchlichen Strapazen geſund und heil ge-
blieben bis auf dieſe Stunde. Leider haben wir aber
andere, ungeheüre Verluſte zu kellagen. Du kannſt Dir
eine Vorſtellung davon machen, wie es hergegangen iſt,
wenn ich Dir mittheile, daß ich am 2 Dezember bei
dem Stuͤrm auf Brie ſur Marne, ein kleines Dorf von
kaum hundert Häuſern hart an der Marne, die Hälfte
meiner Kompagnie verloren habe. Auch die mit mir
ausgezogenen Burgſaßhäuſer haben dabei ſchwere Opfer
gebracht. Es werden von ihnen noch drei vermißt,
wahrſcheinlich ſind ſie in Gefangenſchaft gerathen, einer
iſt ſchwer und elf ſind leicht vexwundet. Die Namen
laſſe ich von meinem Kompagnieſchreiber auf ein be-
ſonderes Blatt ſchreiben, das ich Dir beilege. Du wirſt
daraus erſehen, daß auch unſex guter Neffe Mar dies-
mal dem Schickſal ſeinen Tribut hat bezahlen müſſen.
Er gehört indeſſen, wie ich zu Deinex und Deiner
Schweſter Bexuhigung gleich hier bemerke, nach ſeiner
eigenen Angabe zu den Leichtverwundeten. Er hat einen
Streifſchuß am Halfe, und nicht die Wunde ſelbſt,
ſondern die Art und Weiſe, wie er ſie erhielt, iſt das
Traurige an dem Vorgang. Nach feiner eigenen Mit-


2 auf den 3. Dezember beordert, die Bergung der
Verwuͤndeten vom Schlachtfeld in die dazu bezeichneten
Häuſer zu leiten. Die Nacht war bitterkalt ein wenig
Mondſchein erhellte das blutige Feld, wo Freund und
Feind, wie ſie die Kugel im Verlauf des hHerüber und
hinüber wogenden Kampfes hingeſtreckt, beiſammen lagen.
Gegen vier Uhr Morgens, nachdem alſo längſt Alles
vorbei war, und ſeit faſt zehn Stunden kein Schuß
mehr gefallen, erhielt Mar plötzlich einen Schuß von
hinten, und noch wie er hinſinkt, ſieht er, wie ein ver-


ſelbſt verbunden, das rauchende Gewehr, mit dem er
fortwirft. Die
Leute, die mit Max waren, geriethen über dieſe abſcheu-
liche That in ſolche Erbitterung, daß ſie den Franzoſen
auf der Stelle niedergemacht haben! Du ſiehſt an
dieſem Vorgang, mit welchem zähneknirſchenden Zorn

ſich die Soldaten im tagelangen Kampfe gegenüber-


Ich erfuhr von Mar' Verwundung erſt am 4, Dezem-
ber. Er war ſchon in das große Hoſpital im Schloſſe
zu Verſailles gebracht worden, wo ich ihn in der ſegenann-
len Marſchallsgallerie endlich auffand. . Ich erfuhr von
Max, der 'fehr'ernſt und beivegt mit mir ſprach, wie ich
ihn noch nie geſehen, daß er ſeit dem 1, Dezember zum
Stabsarzt mit feſter Anſtellung avancirt iſt. Er hat
damit den Grund zu einer ehrenvollen Laufbahn geleßt.
Wie er mir ſagte, hat er 1
Vorgeſetzten, dem Oberſtabsarzt Schurich, zu danken,
mit dem er ſehr gut ſteht und der großen Reſyekt vor
ſeiner mediziniſchen und deſonders chirurgiſchen Geſchick-
lichkeit hat. Daraufhin fragte mich Marx, ‚mweil er doch
nun auf eigenen Füßen ſtehe und fremder Hilfe nicht
* bedürfe,‘ ob ich ihm Leonore zur Frau geben
wolle —

Leonore fuhr mit den Händen nach ihrer Mutter
hin, als wolle ſie, in Ermangelung eines Anderen, fie
umarmen. Aber es kam nicht ſo weit. Sie wurde
plötzlich bleich, ihre Lippen ſtammelten etwas Unver-
ſtändliches. Ihre Kehle war ſo trocken, daß ſie kein
klares Wort hervorbrachte. In demſelben Augenblick
taumelte ſie auch ſchon wie truͤnken zur Seite und fiel
in einen Seſſel.

„Aber Leonore!“ rief ihre Mutter erſchrocken, „was
iſt denn? Mein Gott, wenn alle Maͤdchen in Ohnmacht
fallen wollten, die ſich Jemand zur Frau wünſchte, das
wäre eine ſchöne Geſchichte.“



die Ohren, fing an zu weinen und küßte ihre Mutter
auf die Wange.

„Lies weiter, Mama,“ flüſterte ſie, „lies weiter.
Es iſt ja noch nicht zu Ende.“

„Na, falle aber nicht wieder um!“

Nein, nein! Ganz gewiß nicht. Lies nur weiter.
Es fam zu raſch. Es war nur die Freude über ſei
Avancement.“

„Hm,“ machte ihre Mutter etwas zweifelnd, „1
meinetwegen freue Dich, über was Du wiHf:, * Aı
nur nicht ſo lebensgefährlich. Alſo wollen wir n,
was der Vater zu der Sache geſagt hat. ,5

Dann fuhr ſie fort aus dem Briefe vorzwefen.

„Ich hatte ſchon an der ganzen Cinlewung und
an vder Art und Weiſe von Max, der vor r.c im Bett
lag, gemerkt, daß ſo etwas kominen werde Er brachte
nun noch die üblichen Verſicherungen un AMNedensarten
vor, machte aber auch damit einen durchaus aufrichtigen
und ehrlichen Eindruͤck, ſo daß ich übe ugt bin, daß
Max unſere Tochter wirklich in der „eife liebt, die
* nenſchlichem Ermeſſen eine ' fidhe Ehe ver-

ürat —”

Das wiſſen wir ja Alles ſchon, - ‚utter,“ unterbrach


zu ihm geſagt! Darauf kommt

„Na — na!“ machte Frau
„haft Du ſo lange warten kö
wohl auch noch die paar Seku-
bin mit Leſen.“ ;

„Aber ſo lies doch endlı ı, 19 —“

Alſo! — Nach menſe hem Ermeſſen — hın, ja,
alſo hier: Es handelt ſich lſo nur noch daxum zu er-
fahren, ob wir auch von X nore annehmen kennen —“

„Aber was fragt den der Vater nach Sachen, die
ſich von ſelbſt verſtehen? Steht denn nicht da, was er
ſelbſt zu Mar geſagt hat?“

Ihre Mutter Jah *- lange an. Wenn ſie noch im
Zweifel geweſen wärc über die „Sachen, die ſich von
felbſt verſtehen“, ſo hätte ſie in dieſem Augenblick ihre
Zweifel gewiß aufgegeben. Die Augen Leonorens
funfelten aufgeregt, ihre Hände fuhren unruhig und
ungeduldig hin und her, und als ſie den prüfenden Blick

doch an.“

einhold verwundert,

a, ſo wirſt Du doch
mwarten, bis ich fertig


ſchlug die Augen niedex und zerrte und zog verlegen
an ihren Fingern hin und her. Sie war in dem Augen-
blick wunderfchön und zum Küſſen lieb, abex der, dem
das Alles galt, war ſo fern, war krank und leidend, im
Krieg und käglicher Gefahr — er konnte ſie nicht küſſen.

„So lies doch, Mutter,“ bat Leonore nach einer
langen Pauſe wieder leiſe.


wortete ihre Muͤtter mit ſcheinbarer Strenge „wenn
Du mich aber wieder unterbrichſt, ſo ſtecke ich den Brief
in die Taſche und ſage keinen Ton weiter.“


ſollte ich mir den Mund mit dex Hand zuhalten.“
„Alfo! Wo war ich denn ſtehen geblieben Hm,


daß ſie — Gut. Ja. Das iſt nichts für Dich,“ unter-
braͤch ſich nun ihre Mutter zu ihrer großen Ueber-
raſchung ſelbſt, las heimlich weiter und ſchlug das Blatt
um. Erſt nach einer Weile fuhr ſie wieder fort, laut
zu. leſen: :

„Ich habe natürlich in der Sache eine Stellung
eingenommen, wie ſie mir unter den gegebenen Um-
ſtäuden unerläßlich ſchien! Ich habe Mar geſagt, daß



ſtand gegen die Verbindung aufgebe —“
 
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