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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 33.1898

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Heft 1
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https://doi.org/10.11588/diglit.44713#0028
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Heft |1.





es hundert Jahre, bis der Erzähler wieder fortgelassen Y

wird. Diese hundert Jahre verfliegen aber sehr ſchnell,
und wenn der Betreffende, der übrigens während dieser
Zeit ſich weder körperlich noch geistig verändert, wieder
an das Licht der Sonne kommt, findet er sich staunend in
einer neuen, ihm unbekannten Welt. So die Sage.

Da wir am nächſten Tage Rasttag hatten und der
merkwürdige Berg meine Phantasie und Unternehmunggs-
luſt reizte, ſo forderte ich meinen Freund Wiſſer auf
die kaum einige Stunden beanſpruchende Partie dort-
hin mit mir zu unternehmen; aber der nur in seinen
techniſchen und militäriſchen Projekten und Konſtruk-
tionen lebende Freund wollte nichts davon wiſſen, da
ihm der ſagenhafte Berg kein Interesse bot. Auch für
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Das that ich aber noch an demſelben Abend und
ſchrieb bis in die Nacht hinein. Aber während ich
eifrig arbeitete, war es mir immer, als ob der alte
Goj-Magoj mir hämiſch und spöttisch lächelnd über die
Schulter blickte. Den Reſt der Nacht verbrachte ich in
unruhigem, von ſeltſamen Träumen unterbrochenem
Halbſchlummer, und der grauende Morgen fand mich
ſchon auf dem Wege nach dem Radhoſt.

. Dieſer Weg war weiter und mühsamer, als ich
mir vorgestellt hatte; die Sonne brannte heiß auf
meinen Rücken, und in unvorsichtiger Weise wirtſchaftete
h U)! tr Ugevewmehet Jroriunt fewer
mir der Pfarrer mitgegeben hatte. Es war Mittag
geworden, und ich beſchloß, ein wenig zu raſten. Zwi-
ſchen zwei himmelanstrebenden Felsſenwänden waren
auf dem Boden in Menge die kleinen ſchwarzen Heidel-
beeren zu finden, dazwiſchen etwas größere, die ihnen
in Form und Farbe gleich waren; ich breitete meinen
Mantel aus und lagerte mich darauf, leerte die letzte
halbe Flaſche Wein, ab und zu mechaniſch mit der Hand
tin: ſcr ſaftigen Beeren pflückend und zum Munde
ührend.

Mir wurde so wohlig, so angenehm wie noch nie
zu Mute. Die beiden Felswände ließen nur hoch über
mir ein kleines Stückchen blauen Himmels sehen, über
welches gleich überirdiſchen Segeln duftige Wolkenſchleier
zogen; noch höher ſah ich einen ſchwarzen Punkt lang-
ſam Kreiſe ziehen. Es war ein Adler, der meine Auf-
merkſamkeit feſſelte. Ach, wer so wie dieser Vogel
fliegen und schweben könnte! Der König der Lüfte zog
weiter ſeine Kreiſe, der ſchwarze Punkt wurde größer,
er näherte ſich, ſchwebte gerade über dem Felsspalt; –
es wurde dunkler in meiner Nische, es ſchien mir, als
tuen fh pie Felſen oben ſchlöſſen, und Finsternis
umgab mich. s :

Dann wich der Boden unter mir; ich fühlte, daß
ich fiel, in immer raſenderer Eile, hunderttauſend
Meter tief, vorbei an Jelſengestein, riesigen Kohlen-
flözen, bunten Krystallen und glitzernden Erzſtufen.
Dann wurde die ſchreckliche Fahrt langſamer und hielt
endlich still. Ich befand mich in einer rieſigen Tropf-
ſteinhöhle; die bizarrſten Formen von Stalaktiten, aber
auch glänzende Kryſtalle edler Gesteine und schimmernde
Gold- und Silberſtufen glänzten an den Wänden des

in dämmerigem Lichte ſich endlos hinziehenden Raumes.

Vor mir ſtand ein alter Mann, in der Hand
ein vergilbtes, altes dickleibiges Buch.

„Ich bin Goj-Magoj, “ stellte sich mir der Alte vor,
„und freue mich, wieder einmal einen Menſchen von
der Oberfläche der Erde hier zu sehen. – Erzähle,
was geſchieht oben !“ :

Ich hatte bald meine Ruhe wiedergewonnen und

begann nun zu berichten, während Goj-Magoj mich

durch endloſe Verzweigungen der Höhle führte, in denen
außer den natürlichen Schätzen des Bergesinneren auch
allerlei eigenartiger Hausrat aus alten Zeiten, ver-
altete Gefäße und Geräte, Instrumente und ehr-
würdige Folianten in langen Regalen aufgespeichert
waren. Bereitwillig gab ich Auskunft, und so beſprachen
wir Dampfkraft und Elektrizität, Ciſenbahnen, Dampf-
ſchiffe, Telegraphen, Fernſprecher u. s. w. Ich schilderte
die Fortſchritte der Chemie; dann kamen wir auf die
Photographie und ihre zahlloſen Anwendungzsarten,
auf ihre Kombinierung mit Elektrizität u. ſ. w. zu reden,
beſprachen die Spektralanalyſe und das mächtige Feld,
das sie unſerer Erkenntnis geöffnet hatte.

Goj-Magoj begriff alles, verſtand alles und fand
das alles noch unvollkommen, verbeſſerungsfähig. Die
Ideen, die er darüber entwickelte, waren so geiſtreich,
so originell, daß sie mich mächtig anregen.

j Bald war aus dem Unterwieſenen ein Wissender
geworden, der mich oft übertraf. Wir disputierten

und plauderten fortwährend oder probierten, konstruier-

ten, zeichneten, experimentierten in den weitläufigen
Werkstätten und Laboratorien, mit Beihilfe unheimlicher
Gnomen, die wunderbar raſch ſich in die Sache fanden.

Meine Erzählung unterbrach der Alte häufig durch
Fragen, die mir ſein lebhaftes Intereſſe für alles Be-
richtete, aber auch seine erſtaunlich ſcharfe und ſchnelle
Auffaſſungsgabe bekundeten. Letztere mußte ich nament-
lich bewundern, als wir in unſerer Unterhaltung end-



Da s Buch für Alle.

21



lich auch auf die neuzeitlichen Fortschritte der Technik
zu reden kamen. Er begriff nicht nur meine Er-
klärungen sofort, sondern er zeigte mir auch verſchie-
dene ältere Modelle von Maschinen, wie sie etwa vor
zweihundert Jahren im Gebrauche waren, und weitere,
die er mit Hilfe ſeiner unten hauſenden Gnomen in den
Werkstätten, die dort vorhanden waren, ſelbſt entworfen
und gebaut hatte. Durch einen kleinen Erdſpalt konnte
man aus dem Gelklüfte des Berges die Oberfläche der
Erde sehen; dorthin hatte der Alte ein vortreffliches
Fernrohr gerichtet und befragte mich alsdann über die
ihm unbekannten Gegenstände, die er dort in der Neu-
zeit hatte entstehen sehen, und über die ihm noch keine
Kunde geworden war.

„Höre !“ sagte Goj-Magoj, die Arbeit unterbrechend,
zu mir, „es kommt mir vor, als ob viele, viele Men-
ſchen oben herumliefen und zahlloſe Wagen über die
Erde rollten. Dieselbe Wahrnehmung habe ich auch
gemacht, als du hierherkamſt. Ziehen wieder wan-
heute Notker über die Erde, oder wütet oben wieder

er Krieg?“

„Ich lächelte. „Nur ein ungefährliches Abbild des
Krieges ~ ein Manöver, “ antwortete ich und gab ihm
die nötigen Erläuterungen. Er fragte dann nach der
Bewaffnung der Krieger, was mir Gelegenheit bot,
ſo recht die Ueberlegenheit unseres Zeitalters gegenüber
den Kriegern früherer Epochen darzuthun und unſere
rauchſchwachen Pulver und lkleinkaliberigen Repetier-
gewehre zu rühmen. .

„Hm !" unterbrach Goj-Magoj meine ſelbſtbewußten
Lobeshymnen, „vor vielen hundert Jahren, als wir
noch mit Pfeilen ſchoſſen, waren wir ja ſchließlich ge-
rade dort, wo ihr jett ſeid: lange, kleinkaliberige Ge-
ſchoſſe und unsichtbare, ja unhörbare Abgabe des
Schuſſes! Wo ist da der Fortschritt? Warum benutt
ihr die Errungenschaften neuerer Zeit nicht für den
Krieg? Warum lähmt ihr nicht den Gegner durch
Elektrizität, warum fegt ihr seine Scharen nicht durch
entfeſſelte Mengen komprimierter Gase weg?“

Ich war erſtaunt. Ja, warum thun wir das nicht?
Er hatte recht, und eine Menge Ideen durchkreuzten
ſofort mein Hirn. Aber ich mußte meinen Standpunkt
ihm gegenüber wahren und erwiderte etwas von Genfer
Konvention und Humanität.

Goj-Magoj lachte brüllend auf, daß ich erſchrak.
„Humanität – und = Krieg? Unsinn! Dreifacher
Unsinn. Das heißt ja geradezu die Giftſchlange hegen
und pflegen. Je unmenſchlicher, je rückſichtsloſer der
Krieg wütet, je vollständiger, je gewiſser der Gegner
zermalmt wird, um so eher iſt der Krieg aus, um so
Jeltener kann er sich wiederholen. Nicht Schwächung
des Feindes darf die Parole heißen, sondern Ver-
nichtung. Ihr, die ihr es ſo herrlich weit gebracht zu
haben glaubt, werdet das erkennen lernen, wenn ihr
einmal einen Gegner bekommt, der sich an diese natür-
liche Schlußfolgerung hält. Die Errungenſchaften eures
Geistes, auf die ihr so stolz seid, habt ihr mit der
Erkrankung eurer Nerven, mit dem Schwund eurer
Geſundheit, mit der Verkümmerung eurer Gliederkräfte
und eurer Sinne bezahlt. Wehe euch! Wenn einſt
ein noch unverdorbenes Naturvolk mit geſunden Sinnen
und ſstarken Nerven die Erzeugnisse eures Geiſtes erbt
und dann euch überlegen mit den eigenen, mit ver-
besſſerten Waffen ſchlägt, dann wehe euch Europäern !“

Während Goj-Magoj dieses in sichtbarer Erregung
ſprach, ſchien er immer größer, aber auch luftiger zu
werden. Plötzlich sah ich ihn nicht mehr, sondern be-
fand mich allein in einer Erdſpalte, in deren Oeffnung
ich das dämmerige Licht des Tagesanbruches erblickte.

Nachdenkend über das ſonderbare Erlebnis, das ich
nun geneigt war, für einen Traum zu halten, ſchritt
ich auf diesen Lichtſtreifen los, und kurze Zeit darauf
stand ich vor dem Thor meines Quartiers.



9.

Das Pfarrhaus kam mir etwas verändert vor; doch
schrieb ich das der noch herrſchenden Dämmerung zu.
Jerner fand ich beim geſchloſſenen Hausthor eine Art
elektrischen Drückers und daneben einen Schallbecher,
Vorrichtungen, die ich früher wohl übersehen haben mochte.

Auf mein Signal ertönte, von einem unsichtbaren
Rufer her, durch den Schallbecher die Frage nach meiner
Perſon und meinem Begehr. Auf meinen Beſcheid
folgten Fragen und Gegenfragen, bis endlich ein junger
kräftiger Mann, den ich nach der Tracht für den Ge-
hilfen des Pfarrers hielt + tags vorher hatte ich ihn
nicht gesehen -, erſchien und direkt mit mir verkehrte.

War mir ſchon durch das elektriſche Meldewerk etwas
Fremdes in der Sprache aufgefallen, so verwirrten mich
Uu hr. Satrettruer ſohtt aut tete
mehr, und dieses mag auch die Ursache gewesen ſein,
daß wir uns nicht ordentlich verſtändigen konnten.

Ungeduldig fragte ich schließlich, ob Hauptmann
Wisser noch auf seinem Zimmer fei.

„Generalfeldherr Wisſer vielleicht?“ meinte der junge



Mann, ,der hat hier gewohnt; er und sein ganzer
Stab sind indes ſchon nach Sonnenuntergang mit allen
Soldaten abmarſchiert. “

„Was — eine Nachtübung?“ rief ich aus. ,„Da
heißt es eilen, daß ich noch zurechtkomme. Oder iſt
es am Ende ſchon zu sſpät? ~ Geſchwind mein Pferd !“

Ich wollte nach dem Stalle, wo ich geſtern mein
Dienſlpyferd eingestellt hatte, konnte aber merkwürdiger-
weiſe keinen Stall finden. Ö

„Wo ſind denn die Pferde?"

„Pferde? Giebt's nicht! Alle fort!“

Aergerlich verwünſchte ich den mutmaßlichen Ueber-
eifer meines Freundes Wisſſer, der mir Pferd und Reit-
knecht wahrſcheinlich nach dem Radhoſt entgegengeſchickt

wetterte ich.

hatte; aber da half kein Aergern, ich mußte eilen, auf

has Manstsczſcly zu kommen, und frug, ob ein Wagen
u haben Fei. .

i Der dt. Mann bejahte durch eine Gebärde und
gab in das Schallrohr einen kurzen Befehl.

Wie staunte ich aber, als jett der anbefohlene Wagen
geräuſchlos angeglitten kam: ein dreiräderiges kaſten-
artiges Vehikel, ohne jede Bespannung, geführt von
einem vorn sitzenden Mann, der eine Art Lenkstange,
wie sie bei Fahrrädern gebräuchlich iſt, dirigierte.

Kopfschüttelnd stieg ich ein, und das Wägelchen

sette ſich sofort in Bewegung, erſt langſam, dann im-
mer schneller und ſchneller, daß es zuletzt mit einer Ge-
schwindigkeit über die herrlich erhaltene Straße dahin-
ſauſte, gegen welche die Eile unserer Blitz- und Luxus-
züge ein Schneckengang erſchien. Dabei bemerkte ich
gar keine Trittbewegung meines Leiters, es mußte alſo
irgend ein Motor diesen Wagen treiben. Auf meine
Frage danach antwortete der Mann nur kurz das
Wort: „Akkumulator“.

Nach kurzer Zeit wurde der Wagen gebremſt und
hielt vor einem eigentümlichen Gebäude, das, hart an
der Straße gelegen, die leicht erkennbare Aufschrift in
verſchiedenen Sprachen enthielt:

„Akkumulator - Autonat! –~ Nach Hineinſchieben
des entkräfteten Akkumulators nebſt der laut Preistarif
zu entrichtenden Bezahlung erſcheint bei der Neben-
ſpalte ein neu geladener. “

Neben dieſem Automatengebäude hatte eine kleine
Schnellfabrik für Reparaturen von Fahrrädern und
Motorwagen ſich etabliert.

„Eine famose Einrichtung!“ dachte ich; „daß mir
dieses in einem als ziemlich unkultiviert verſchrieenen
Lande zum erstenmal begegnet !“ :

Mein Führer erklärte kurz, der möglichen Gefahr
wegen nicht weiterfahren zu wollen, beſchrieb mir aber
den Weg, den ich zu nehmen hätte, um die Truppe
bald zu erreichen. Auch diesmal verſtand ich ihn nicht
ganz. Was für eine Gefahr fürchtete er denn bei einem
einfachen Manöver? : :

Ich wanderte nun nachdenklich querfeldein, gegen
das Manöverfeld zu. Da ſchreckte mich ein ſonderbares
Geräuſch auf, und ein langer Wagenzug rollte mir
entgegen. Erst glaubte ich, es wäre eine Eiſenbahn;
aber es waren nur einzelne Wagen, alle ähnlich ge-
staltet wie derjenige, der mich vorhin geführt, und alle
beladen mit – Verwundeten.

Die Verwundeten lagen, wie ich in maßloſem Staunen
gewahrte, alle regungslos in wohlthätiger Betäubung;
bſethtr hette wan fis jerkoittt z te gast
verbunden port s waren durchgehends ältere, mit-
unter gebrechliche Leute, auch viele Frauen darunter,
ebenſo lenkte jeden Wagen ein Frauenzimmer ~ alle
in eine Art erdgrauer bequemer Uniform gekleidet.

„Was hat das zu bedeuten?" frug ich. „Was für
ein Unglück iſt da geſchehen? Eine Exploſion? Ein
Fabrikbrand? Ein Schachteinſturgs?"“.

Auf dieſe aufgeregten Fragen riefen mir die Wagen-
führerinnen etwas Unverständliches zu, und in wenigen
Augenblicken war dieser Sanitätswagenzug wie eine
Viſion an mir vorübergeſauſt.

Ein zweiter Wagenzug kreuzte meinen Weg. Die
Wagen waren etwas anders gebaut und mit eigentüm-
lichen Vorrichtungen, ähnlich elektriſchen Apparaten,
verſehen. Sie trugen verſchiedene Inſchriften, welche,
wie ich sofort erkannte, mit einer Schwefelcalciumfarbe
fut Zr pt s ue
und konnte mit Mühe lesen: „Kraftkolonne der 195.
Diviſion. Akkumulatorwagen Nr. 27 ~ 1087 Meter-
tonnen“ – weiter konnte ich nicht lesen, denn ich
vermochte mit den außerordentlich ſchnell dahineilenden
Wagen nicht in gleicher Linie zu bleiben, und die
Wagenführer ſchalten und wiesen mich ab. ,

Ich wurde immer verwirrter; was war nun dieſes
wieder?

Vorwärts drängte es mich, das Rätſel zu löſen.
Ich fand auf dem Wege eine Art Zweirad herrenlos
liegen; sofort bestieg ich es und raſte weiter, kaum be-
merkend, daß nun der Boden mit verschiedenen Gegen-
ständen bedeckt war: zerbrochenen Wagen, sonstigen Trüm-
mern, Kleidungsstücken, Waffen + ja, drüben lag sogar
eine menſchliche Leiche; – noch eine + da wieder eine
 
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