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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 35.1900

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Heft 12
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https://doi.org/10.11588/diglit.56331#0278
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Das BuGH für Alle

Heſt 12



278

Er ſah ſie, wie ev erwartet hHatte, fie zu finden. ;
Sie lag im Iofen, weichen Morgenkleid auf einer be: !
quemen Chaiſelongue! Eine vote Dede mar über ihre
Kniee gebreitet, Blumen ſtanden auf dem Tiſchchen
neben ihrem Lager — Blumen, die die armen, ver-
bundenen Augen nicht ſehen konnten! Die ſchwaͤrze
Binde — daͤrunter die bleichen, ſchmalgewordenen
Wangen — das goldene, ſchöne, geöffnete Haar.

Haſſo konnte ein Aufſchluchzen nicht unterdrücken,
als fein Blick dies ganze rührende, todestraurige Bild
umfaßte.

Margarete —

Vor ihr niederſtürzend, legte er ihr ſeinen Früh-
lingoſtrauß in die Hände und dann, ſeinen Kopf in
die Blüten preſſend, küßte er die Stelle, da ihre Finger
geruht hatten.

„Margarete, ſprich ein Wort zu mir, ich vergehe
vor Jammier um das, was ich dir that!“

Ein ſchmerzliches Zucken flog über ihr bleiches Ant-
liß, matt glitt ihre Hand über ſein gebeugtes Haupt.

„Liebe mich nur — dann will ich nicht klagen —
und du ſollſt es auch nicht.“

Da löſte ſich ſeine verhaltene Herzenspein der durch-
lebten Wochen in ein leidenſchaftliches Dankesſtammeln,
Da kein irdiſcher Wortſchatz für die völlige Aeußerung
ſeiner Empfindungen ausgereicht hätte. ;

Ich werde dich lieben, mie ein Schuldiger die
Gnade, wie ein Gefeſſelter die Freiheit liebt. Ich
werde dich lieben —“

Ein grelles Aufleuchten ſchoß plötzlich durch die ver-
hangenen Fenſter und ließ Oldenhofen erſchreckt zu-
fammenzucken und verſtummen.

„Was iſt dir? Warum ſchauderſt du?“
Sie richtete ſich ein wenig höher auf und taſtete
nach ſeiner Hand.

Dieſe Bewegung, ihre Worte brachten ihm mit ſo
jäher Gewalt ihr gaͤnzes, furchtbares Unglück, vielleicht
fortan ihr Lebenlang ſo nach helfenden Händen taſten
zu müſſen, zum Bewußtſein, daß er erſchüttert ein
paarmal vergebens zum Sprechen anſetzte, bevor er
heiſeren Tones herausbrachte: „Ich war nervös — es
wetterleuchtet draußen — nichts weiter.“

Sie bewegte langſam den Kopf. „E3 wetterleuchtet
draußen — nichts weiter? Um mich bleibt es dunkel
nun ſchon ſo viele, viele Tage.“

„Margarete, mein Einzigſtes!! Haſſo hatte ſich
neben ſie geſetzt und während er ihren Kopf ſanft an
ſeine Bruſt lehnte, ſuchte er mit den zärtlichſten Troſtes-
worten, die Liebe je erſann, ihr verdüſtertes Gemüt
zu erhellen. Wie er fie anbeten würde allezeit, nun
fie ſo viel ſeinetwegen gelitten, wie er ſelbſt ſo namen:
los elend ſei über das vom Schickſal durch ſeine Hand
vollbrachte Unglück, und wie er es mit ihr tragen
wolle, da er es nicht für ſie thun könne.

Alles dies ſagte er ihr und in ſeiner ſchwingenden
Stimme klang alles Sute, alles Schöne, was ſeine un-
verdorbene Natur beſaß und ein Menſch zu äußern
vermochte.

Margaretes Geſicht, auf dem ſeine Augen forſchend
ruhten, hatte unter feinen leiſen, zarten Liebkoſungen
allmählich den ſtarren, müden Ausdruck völliger Hoͤff-
nungsloſigkeit verloren, etwas wie der Verſuch eines
Lächelns mühte ſich um ihre Lippen und ſie ſchmiegte
ſich feſter in ſeine Arme.

„Wenn du ſo redeſt, iſt mir's, als ob ich wieder
ſehen könnte —- tief in dein Herz hinein, und da iſt
es licht und hell.“

O du — du —” Cr füßte ſie für ihre Worte,
er hätte beten mögen vor Glück.

Doch plötzlich, während ſeine Zärtlichkeiten ein
wonniges Gefühl des Geneſens, des Erftarkens in
ihren Adern weckten, erwachte auch die ganze Erkenntnis
ihres Unglücs, Alle ſeine Folgen kamen ihr mit dem
Gedanken: „Du kannſt ja nie wieder geſunden, bift
nie wieder dieſelbe, biſt entſtellt, vielleicht blind,“ in
ſo jäher, entſetzlicher Angſt zum Bewußtſein, daß ſie
mit ſchauderndẽm Aufſchrei in die Kiſſen zurückfank.

Margarete! Allmächtiger Gott, erbarme dich —
Margarete !“ Er riß ihre kalten Hände an ſeine Lippen.
Sei doch nur ein wenig hoffnungsvoller, mein Lieb!
Wer ſagt dir denn, daß du nicht völlig geheilt wirſt?
Vertraue doch, glaube doch!“

Cr wußte nicht mehr, was er zu ihr reden, was
er thun ſollte, als ſie ſich emporrichtete, nach der Rich-
tung des Fenſters deutete und mit leidenſchaftlicher,
ahgeriſſener Stimme hervorſtieß: Hörſt du? Draußen
ſchlägt der Regen an die Scheiben, der Sturm koſt
und der Donner grollt. Ich vernehme es wohl und
weiß ein Gewitter bricht aus, Wenn aber Blitze dich
und mich umzuckten, wenn das Zimmer in Flammen:
glut ſtände und du ſchaudernd dein Antlitz verbergen
müßteſt, ſo würde ich das meine ahnungslos zum
Himmel erheben und hilflos warten, bis mich der ber-
nichtende Strahl träfe. Das iſt Blindheit, Haſſo!
Blind — vielleicht ein Leben lang!“

„Nein, nein,“ ſtöhnte er gepeinigt, „du wirſt nicht



blind ſein, wenn die Binde fäilt.“
„So löſe ſie mir doch“ * faſt wild umklammerte

ſie ihn — „damit ich Gewißheit habe, vielleicht Hoff-
nung — nun ja, vielleicht! Aber .an allem, was die
Kunſt des Arztes an mir verſuchte, fühlte ich doch die
Art der Verletzung zu deutlich! um nicht zu wiſſen,
wie wenig ich in Waͤhrheit zu hoffen hHabe. Löſe mir
die Binde, Haſſo, gieb mir Gewißheit — um unſerer
Liebe willen, löſe fie mir!“

„Margarete, auf meinen Knieen heſchwöre ich dich,
ſei ruhig! Laß mich das Maß meiner Schuld nicht
durch eine neue vergrößern. Ich muß dich verlaſſen,
wenn du dich nicht ſchonſt. Habe doch ein wenig Mit-
leid mit dir ſelbſt, mit mir!“

Außer ſich über ihren ſo unerwarteten Verzweif-
lungsausbruch beugte er ſich über ſie und hielt ihre
zitternden Hände, die an dem Verbande reißen wollten,
mit zwingender Gewalt in den ſeinen.

Da warf ſie ſich mit tiefem Atemzuge in die Diwan-
kiſſen zurüd. „Verzeih,“ hauchte ſié erſchöpft, „du
haſt recht, laß mir die Gnade des Nichtwiſſens — und
erſpare dir einen häßlichen Anblick. Siehſt du, wie
Gott jeden Frevel beſtraft! Ich wünſchte, nicht ſchön
zu ſein, um an deine Liebe um ſo ſicherer glauben zu
können. Nun — ich werde es nicht mehr fein.“

Er ſchloß ſie feſt in ſeine Arme, an ſein Herz.
„Du wirſt durch dein Leid hinfort meiner Liebe noch
ſchöner erſcheinen, als zu jener Stunde, da ich dich
zum erſtenmal als Braut .im Arme hielt.“

„Deine Braut Wie aus tiefem Traume heraus
flüſterte ſie es leiſe vor ſich hin und ſtrich beruhigter
* ihre Stirn und auch über Haſſos Haupt an ihrer

eite.

Doch Sekunden nur, und wieder gruben quälende
Vorſtellungen tiefe Falten um den herb zuſammen-
gepreßten Mund.

„Deine Braut,“ wiederholte ſie bitteren Tones,
„entſtellt, häßlich, blind vielleicht — und du jung,
reich, ſchön und die Welt ſo lockend — und deine
Augen, dein Herz ihrer Schönheit geöffnet. — Wenn
nun, Haſſo, eines Tages eine andere deinen Weg
kreuzte, die du — die dir —“

Er ließ ſie nicht ausſprechen. Erregt mar er auf-
gefahren. „Margarete, wohin ſtellen mich deine Ge-
danken! Die ſtolze Zuverſicht unwandelbarer Ehren-


rend er, das ernſte Geſicht in traurig⸗mitleidigem Bor-
wurf auf die Kranke gerichtet, feiexlich rief: „So wahr
meine Hand dir und mir das ſchwerſte Leid gebracht
hat, was wir beide je erduldeten, ſo wahr ich meine
Hand trotzdem noch zum heiligen Schwur erheben kann,
ſo wahr werde ich dich und nur dich lieben, bis daß
der Tod uns ſcheidet!“

Tiefe Dunkelheit hatte, während er ſprach, ſich im
Zimmer verbreitet, aber jetzt, da ſeine Rechte ſich zum
Gelübde erheben wollte, zuckte ein breiter, zreller Blitz
wie eine Feuergarbe über ihn hin. Zugleich erdröhnte
unter einem furchtbaren Donnerſchlas das Zimmer.

Margarete ſchrie gellend auf und verbarg das Ge-
ſicht in den Kiſſen. Er umfing ſie minutenlang, bis
ſie ruhiger geworden, dann eilte er, ſeine Mutter als
geeignetere Pflegerin zu der Kranken zu bitten. Zu-
vor hatte er durch die Klingel die in der Nähe wei-


Selbſt kaum eines klaren Gedankens fähig, durch-
einandergerüttelt bis ins Innerſte ſeiner Seele von
dieſem Zuſammenſein, dabei die Sinne, die Empfin-


Korridor entlang. Er eilte die breite Treppe hinab,
die zu dem unmittelbar in den Park mündenden Vor-
ſaal führte, von dem aus die Zimmer Frau v. Olden-
hofens zu erreichen waren.

Draußen raſte indeſſen das Unwetter mit fürchter-
licher Gewalt. Wolkenbruchartige Waſſerfluten ſtürzten


wechſelten miteinander ab. Jetzt wieder ein knattern?
der, praſſelnder Donnerſchlag! daß alles erbebte; zu-
gleich ein Rütteln an der Hausthür, ein Knaͤrren und
jähes Zurückſchlagen der Pforte. Haſſo ſprang mit
einem Satz die letzten Stufen hinab, dem Sturm zu
wehren, der Einlaß in das Haus begehrte.

Wiederum blendende Helle, und von ihr grell be-
leuchtet erſchien im Thürrahmen ein ſeltſames Geſicht
— weiß, ſchmal, fremdartig, mit dunklen Augen, deren
Ausdruck an den eines geaͤngſtigten Vogels erinnerte.

Die jähe Glut erlofch, und in das ſich entfernende
Donnerrollen hinein tönte eine helle, energiſche Stimme:
„Zwei pudelnaſſe Fremdlinge, verehrteſter Vetter, bitten
um Schutz Obdach, warme Suppe und gute Behand-
lung. Sind im Wald vom Wetter überrafcht worden,
dein ſtolzes Schloß war unſere nächſte Zuflucht. Mich,


furchtbar nett, wirſt du ja erkaͤnnt haben bei dem
famoſen Himmelsfeuerwerk; erlaube nun, dich deinem
weiteren Gaſte vorzuſtellen: Majoratsherr Haſſo von
und zu Oldenhofen — hier meine Freundin Anita
Hatera.“ —— ;

Ein friſches, kraushaariges Ding, dem das Bluſen-
kleid regentriefend ſchwer am Körper hing, deutete auf
ihre Begleiterin, die ſie vor ſich her in das ſchützende



Haus geſchoben und deren Bild Haſſos Blick vorhin
in den grellen Schein des Blitzes gleich einer Vifion
erſchienen war! Eine Viſion, die fich, fo ſchnell fie
vorübexgegangen, ſeinen erregten Sinnen bis auf jede
ihrer Einzelheiten aufgedrängt haͤtte unguslöſchlich
wie ein im Feuer geprägties Bild.

Das zarte, kleine Geſchöpf mit dem fremdartigen
Heſicht und dem fremdartigen Namen neigte leicht das
Köpfchen gegen ihn.

Haſſos Baſe, die wohl wußte, daß Margarete Selke
wegen eines Unfalls krank auf Oldenhofen lag, aber
keine Ahnung von der Tragweite dieſes Unglücks, oder
von der Stellung ihres Vetters zu Margaͤrete haͤtte,
fragte ſorglos weiter: Und euer kranker Gaſt, Hafıo,
wie geht es dem? Darf man Fräulein Selken einmal
beſuchen?“

„Doch —“ Er atmete ſchwer und müde. . „Sie
wird bald wieder zu ihrem Vater heimkehren.“

Eine ſeltſam ausweichende Antwort. Käthes kluge
Augen glitten forſchend über ihres Vetters ſorgenvolles
Geſicht, und das fröhlich-leichte Lächeln um ihre Lippen
wich mitleidsvollem Ernſte! Oldenhofen mit einem
„Auf Wiederjehen“ zunickend, winkte ſie ihrer Freun-
din und ſchritt! mit den Räumen des Gutes wohl ver-
traut, an ihm vorüber, dem großen Familienwohn-
zimmer zu.

Die Fremde eilte ihr nach. Sie hHatte kein Wort
geſprochen, doch bevor ſie um die Korridorecke bog,
ſchaute ſie mit einem langen Blicke zurück, gerade in
Haſſos Geſicht.

Drittes Kapitel

Nur etwa hundert Schritte vom herrlichen Tannen-
walde entfernt, bewohnte der Regierungspräfident Selken
das Erdgeſchoß eines villenarligen Häuschens. Die
Wohnung war mit behaglicher Elẽganz eingerichtet, aber
klein, da neben der koſtſpieligen Geſundheitspflege des
Präſidenten ſeine Penſion nur zur Führung eines be-
ſcheidenen Hausſtandes ausreichte. Unter den Händen
der alten Hanne, der treuen, langjährigen Dienerin
des Selkenſchen Hauſes, ließ dieſes troßdem kaum eine
der altgewohnten Bequemlichkeiten vermiſſen.

Als der Präſident nach ſeiner Penfionierung die
mit allen Naturſchönheiten überreich bedachte Univerſi-
tätsſtadt ſich zum künftigen Wohnort auserwählt, war
neben den für ſeinen leidenden Zuſtand wichtigen kli-
matiſchen Verhältniſſen auch beſonders der Umſtand
ausſchlaggebend geworden, ſeine Tochter werde in Frau
v. Oldenhofen, der langjährigen treuen Freundin feiner -
verſtorbenen Gattin, den mütterlich⸗ liebevollen Halt
finden, deſſen Margarete ſeit Jahren entbehren mußte.
4 Vorausſetzung hatte ſich im vollſten Maße
erfüllt.

Frau v. Oldenhofen mar Margareten mit ſo viel
warmer, echter Herzlichkeit entgegengekommen, hatte
jo mütterlih dafuür Sorge gefragen, daß das jünge
Maͤdchen ſchnell einen paͤſſenden Bekanntenkreis fand,
daß Margarete, zumal auch auf ihren Vater der Orts-
wechſel eine ſehr günſtige Wirkung äußerte, ſich in den
neuen Verhältniſſen ſchnell einlehte und glücklich fühlte
Das Oldenhofenſche Haus galt ihr faſt als zweite
Heimat. \

Und nun war es unter dem Dache dieſes Haufes
geweſen, daß ihr Schickſal ſie ſo ſchwer getroffen.

Ja, bitterſchwer!

Nun die Binde von ihren Augen gefallen, konnte
auch dem Vater nicht länger verborgen bleiben, was
man ihm bis dahin verheimlicht hatte: ſeine ſchöne,
vielbewunderte Tochter hätte ein Auge verloren, und
über dem anderen lagen frübe Schleier. Aber was
ſchlimmer mar als dies, auch ihre Seele hatte die
Fähigkeit eingebüßt, die Welt zu ſchauen wie früher.
Eine herbe, klagloſe Verbitterung hatte ſeit jenem Taͤge,
da ſie ihr ſo kraurig verändertes Antlitz zum erſten-
mal im Spiegel erblickt, ihr Weſen mit ſchwarzen
Schatten zu umſpinnen begonnen.

Ob fie, ſolange die Binde ihre Augen deckte, in
ſich die Hoffnung gehegt, es möge ein Wunder ge-
ſchehen und die Verletzung ſpurloͤs an ihr vorüber-
gegangen ſein?

Nun, es geſchehen keine Wunder mehr. Nur ihr


können.

So ſuchte man ſie zu tröſten als ſich die Waͤhrheit
enthuͤllte Und dann hatte Haſſo ſie hinausgeführt in
den blühenden Garten und wieder und wieder es ihr
zugerufen, als ſei er ſelber von der Nacht ewiger Blind-
heit erlöſt morden:. Du ſiehſt doch, Geliebte! Du
kannſt ſehen — ſiehſt das Licht, die Blumen, deine
Lieben und alles Gute, Schöne, womit ich Ddeinen -
Lebenzweg überſchütten will. Keine ewige Trennung


Ja, als ſie darauf in fein gutes, ehrliches Antlitz
ſchaute, daz ſie undeutlich, ferher gerückt zwar, aber
doch erkennbar ſah, da war auch in ihr der Dank auf-
gewallt, ſich vor dem ſchlimmſten bewahrt zu ſehen,
das einen Menſchen treffen kann — vor ewiger Nacht.
 
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