Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 45.1910

DOI Heft:
Heft 12
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.60741#0265
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Heft 12

Vas Ruch füi-Me

258

Tränen. „Ist denn keiner da, der für ihn eintritt?
Ihr kennt ihn doch alle!"
„Wo steckt er denn, wenn er ein gutes Gewissen
hat?" höhnte der Gemeindediener.
Wirre Rufe wurden unten laut und pflanzten
sich nach oben fort. Alle schauten voll Spannung
nach der Tür.
Wenige Augenblicke später erschien in dieser
das marmorbleiche Gesicht des Windmüllers. Er war
barhäuptig, und die Haare fielen ihm wild in die
Stirn, seine Augen blickten starr und lagen tief in
den Höhlen, jeder Zug drückte Verstörtheit aus,
jeder Nerv an ihm schien zu beben.
„Der trägt das Zeichen des Mörders an der
Stirn," raunte der Schulze dem Gemeindediener zu.
„Was ist hier los? Was will man vom Lahnert?"
fragte der Müller und erhob wie drohend den Arin.
Da hing auch schon Emmerenz an seinem Hals
und rief schluchzend: „O Joseph, Gott sei Dank,
daß du wieder da bist! Ich dachte, du wärst tot!
Und während du fort warst, ist hieb der alte Mann
niedergeschlagen und beraubt worden. Und nun
sagen sie, du seist es gewesen. Straf sie Lügen, die
Verleumder!"
Der drohende, finstere Ausdruck in den Zügen
des Windmüllers wich jäh einem solchen des Ent-
setzens. „Salzacker — erschlagen?" Er drängte
sein Weib zurück und stürzte nach dem Bett. „Ist
er tot? Um Gottes willen, ist er tot?"
„Danken Sie Gott, Lahnert, daß er es nicht ist,"
rief ernst mahnend der Pfarrer. „Aber er ist schwer
verletzt, und eben jetzt hat er wieder das Bewußtsein
verloren."
„Wer — wer war es?"
„Das wirst du wohl am besten wissen, Joseph,"
erwiderte der Schulze.
„Ich — warum ich? Ihr denkt wirklich — mein
Gott im Himmel, bin ich denn verrückt?" schrie der
Windmüller und ballte wütend die Fäuste. „Ist
denn die ganze Welt gegen mich?"
„Kennst du die Axt hier?"
„Meine — jawohl."
„Hast du nicht vorhin erst noch dem alten Mann
auf den Kopf zugesagt, er hätte dreimal so viel n
dem Schranke dort, als du brauchtest?"
„Jawohl."
„Und deine Frau hast du weggeschickt unter einem
ganz durchsichtigen Vorwand!"
„Das war kein Vorwand. Ich wollte Antwort
vom Fritzsche."
„Und bliebst doch nicht, wie du versprochen, zu
Hause, sie abzuwarten?"
„Weil ich's nicht mehr aushielt. Ich dachte, ich
müßte ersticken in der Stubenluft!"
„Er wird wohl gegangen sein, um das geraubte
Geld zu verstecken," bemerkte der Gemeindediener
hämisch zu dem Schulzen.
„Geld? Seht zu, ob ich einen Pfennig bei mir
habe!"
„Bei dir wirst du's wohl nicht mehr haben."
Der Pfarrer zog Walpurgis hinter dem Kleide
der Mutter hervor. „Wir wollen noch einen Ver-
such mit dem Kinde machen," schlug er vor. „Wir
haben jetzt den Vater zur Stelle — vielleicht gelingt
es doch, eine Auskunft zu erhalten."
Wie vorher führte er der Taubstummen die Pan-
tomime des Schlagens vor, dann deutete er auf den
Alten im Bett und dann auf den stumm und be-
klommen den Erfolg erwartenden Müller. Die
Kleine blickte ihn erst verständnislos an, als er aber
nochmals mit der Hand auf die Brust ihres Vaters
tippte und dann wieder auf das Bett wies, nickte
sie nachdrücklich.
„Was fällt dir ein, Walpurgis?" rief der Müller
bestürzt. „Ich soll —"
„Sie hat den Herrn Pfarrer nicht verstanden,"
warf Emmerenz angstvoll ein. „Sie denkt, er will
wissen, ob das ihr Vater ist. Sie dürfen nicht eine
so furchtbare Beschuldigung auf das Zeugnis eines
unglücklichen Wesens stützen, das nicht begreift, was
man von ihm will, und das Sie ebenfalls nicht
verstehen!"
„Das wollen wir auch nicht, Frau Lahnert," ver-
setzte mild der Pfarrer. „Sofern wir nicht unzwei-
deutige Kundgebungen herauslocken, legt selbstver-
ständlich niemand auf das Gebärendes Kindes Wert."
„Sie hat aber doch ihren Vater bezeichnet," be-
tonte der Schulze mißtrauisch.
„Lassen Sie mich mit ihr reden, und sie wird
ebenso den Herrn Pfarrer oder jeden anderen be-
zeichnen, den sie kennt," erbot sich die gepeinigte
Mutter und Gattin. — „Walpurgis" — sie nahm
das Kind vor sich und wiederholte genau die Be-
wegungen Sängers, nur daß sie, nachdem sie die
Schlagbewegung ausgeführt, statt auf ihren Mann
auf den Pfarrer zeigte.
Alle schauten in atemloser Spannung auf die
Kleine — richtig, sie nickte wieder und streckte sogar

ihr Händchen gegen den etwas verblüfft drein-
schauenden Geistlichen aus.
„Da haben wir's," murrte verdrießlich ter
Schulze. „Laßt sie gehen. —- Aber da kommen die
Herren aus der Stadt. Na, mögen die sehen, was
sie aus der Sache machen."
Er selbst war ja von der Schuld des Windmüllers
überzeugt, aber er war mit Lahnerts Vater gut
befreundet gewesen und hatte den Jungen von Kind
auf gekannt, es war ihm daher lieber, wenn er die
entscheidenden Schritte in der Angelegenheit nicht
zu verantworten brauchte.
Der Wagen aus der Stadt brachte gleichzeitig
mit dem Polizeiinspektor und einem weiteren Kri-
minalbeamten den Doktor Meuselbach, der auch als
Gerichtsarzt fungierte.
Die Untersuchung des Verletzten ergab eine zwar
schwere, aber bei sorgsamer Pflege nicht unbedingt
tödliche Wunde am Hinterkopfe, zugefügt mittels
eines stumpfen, aber wuchtigen Werkzeugs; auch
ordnete der Doktor für den nächsten Morgen die
Überführung des Schwerverletzten in das Kranken-
haus der nächsten Stadt an.
Die Nachprüfung des Tatbestandes durch die
Kriminalbehörde förderte weder neue Verdachts-
momente noch irgend einen besonderen Umstand
ans Licht, und da auch eine nochmalige Vernehmung
der taubstummen Augenzeugin, sofern man an-
gesichts der Unmöglichkeit ausreichender Verständi-
gung von einer solchen sprechen konnte, zu keinem
anderen als dem bisher erzielten Ergebnis führte,
begnügte man sich mit der einstweiligen Inhaftnahme
des schwer belasteten Müllers, obgleich man die ge-
raubte Summe nebst den vermißten sonstigen Wert-
sachen weder in seinem persönlichen Gewahrsam noch
irgendwo im Hause oder in der Umgebung desselben
vorfand.
Selbst die kleine Toni versuchte man auszufragen,
das Kind hatte aber geschlafen, es wußte nichts vom
Weggehen des Vaters und hatte außerdem nicht den
mindesten Begriff von der Sache.
„Es ist sogar fraglich, ob die Taubstumme den
Täter gesehen hat," meinte der Inspektor. „Sie
spielte am Fenster und kann dem Eindringling, wie
Salzacker auch, den Rücken zugedreht haben."
Das Endergebnis der Voruntersuchung war nicht
zweifelhaft. Es lag gegen niemand ein begründeter
Verdacht vor als gegen den Windmüller.
Es wurde denn auch bereits wenige Wochen
später gegen ihn das Hauptverfahren unter gleich-
zeitiger Ansetzung des Termins der Hauptverhand-
lung eröffnet. Die Verhandlung war die erste nach
Zusammentritt der Geschworenen. Der Fall war
nicht gerade sensationell und hätte wenig Inter-
esse erregt, wenn nicht durch die Zeitungen bekannt
geworden wäre, daß als Hauptzeugin ein taub-
stummes Kind vor dem Gerichtshof erscheinen
würde. Dadurch und weil aus dem Wohnorte
Lahnerts und den Nachbardörfern Bekannte und
Neugierige in großer Zahl erschienen waren, gab
es doch einen ziemlich starken Andrang.
Der Angeklagte war bleich und zurückhaltend,
aber doch ziemlich gefaßt. Nur als mit den vorge-
ladenen Zeugen seine Frau und sein Kind den Saal
betraten, vermochte er kaum seine tiefe Bewegung
zurückzuhalten. Emmerenz brach bei seinem An-
blick in lautes Weinen aus. Er suchte sie zu be-
ruhigen, indem er ihr tröstend zurief: „Gräme dich
nicht, Renze, ich hab' ein reines Gewissen, und du
weißt, daß ich schuldlos bin. Alles übrige müssen
wir dem Schicksal überlassen!"
Ruhig beantwortete er alle Fragen. Gegen die
vorhandenen Beweise konnte er nicht viel einwenden.
Die Axt war fein Eigentum, ein Verhängnis hatte
gewollt, daß er seine Frau kurz vorher mit einem
Auftrage, den das Gericht lediglich als Vorwand
ansah, ins Dorf geschickt hatte. Drohungen gegen
Salzacker habe er aber nicht ausgestoßen. Die von
diesem behauptete Äußerung über den Schrank habe
er getan, sie sei unter den obwaltenden Verhältnissen
ja auch ganz natürlich gewesen. Sein Al.bi ver-
mochte er nicht nachzuweisen, denn er sei planlos
umhergeirrt, bei der herrschenden Finsternis hätte
ihn niemand gesehen.
Ferner sprachen gegen ihn seine verzweifelte
Lage und feine Gemütsverfassung.
Zu seiner Entlastung wies er darauf hin, daß
er stets ein ehrlicher Mensch gewesen sei, der nie
jemand unrecht getan habe, daß er nie jähzornig
und gewalttätig gewesen sei, und daß man ihm doch
auch so viel Verstand zutrauen würde, zu überlegen,
wie ja der Verdacht einer solchen Tat unter allen
Umständen auf ihn fallen müsse.
„Und wo ist das geraubte Geld?" rief er ent-
rüstet. „Wo sind die Schmucksachen, die vermißt
werden, die drei Ringe, das Halsband und die bei-
den Armbänder? Wo soll ich denn das in aller Welt
hingebracht haben?"

ihm auf. Wieder tastete er, aber diesmal hastig und
bestürzt, nach seiner Wunde, dann ließ er ein lautes,
heiser klingendes Stöhnen vernehmen. „Diebe —
Mörder!" stieß er heiser heraus.
„Wer hat Sie geschlagen?" forschte der Pfarrer-
rasch. „
,Weiß ich's denn? Er kam von hinten —
Der Getroffene sprach mit matter Stimme, aber
doch deutlich. „
„Da wissen wir auch mcht mehr als vorher,
äußerte unzufrieden der Schulze.
„Haben Sie auch gegen niemand einen Arg-
wohn?" setzte Sänger das Verhör fort. „War Ihnen
jemand feindlich gesinnt?"
„Ach, alle hielten mich für —" Ein neuer Ge-
danke überwältigte ihn. „Der — der Schrank,"
stammelte er.
Er machte Anstrengungen, sich zu erheben und
einen Blick nach dem Schranke zu gewinnen, aber
es war ihm unmöglich.
Der Pfarrer tauschte mit dem Schulzen einen
Blick des Einverständnisses. Verborgen konnte dem
Kranken das Geschehene nicht bleiben, so beugte er
sich mitfühlend zu ihm und gab ihm so schonend
als möglich von dem stattgehabten Raube Kenntnis,
indem er ihn gleichzeitig bat, sich nicht aufzuregen,
der Räuber würde gewiß bald entdeckt, und das ge-
stohlene Gut wiedergesunden werden.
Doch dieser Trost brachte auf den alten Mann
nicht den mindesten Eindruck hervor. Er faßte von
der ganzen Rede weiter nichts als die Enthüllung,
daß man ihn beraubt habe. „Mein Geld, mein
mühsam erspartes Geld," stöhnte er. „Gebt mir
mein Geld wieder — schafft mir mein Geld!"
Vergeblich versuchte der Pfarrer, ihn zu beruhigen.
„Wenn mein Geld fort ist, hat's niemand ge-
nommen als der Müller —"
„Salzacker, wie können Sie so etwas sagen!"
fiel ihm die unglückliche junge Frau ins Wort. „Ist
oas der Dank für alles Gute, das wir Ihnen er-
wiesen haben, daß Sie meinen armen Mann ins
Zuchthaus bringen wollen?"
„Er ist's gewesen — jawohl," brüllte Salzacker.
,Hat er mich nicht kurz vorher bedroht? Stand ex
ncb hier oben vor mir und guckte mich mit Augen
als wollte er mich umbringen?"
Mar das wirklich der Fall, Salzacker?" fragte
lSchulze.
lDort hat er gestanden, dort an der Tür — ich
I im Schranke dreimal so viel Geld, als er
rchte, hat er —"
>,Hat er das wirklich gesagt?" fragte der Schulze.
Der Alte fuhr fort, abwechselnd zu winseln, zu
reulen, zu schimpfen und nach seinem Gelds zu
«erlangen.
„Das einzig Bemerkenswerte an der Aussage
-alzackers," setzte Pfarrer Sänger dem Schulzen
useinander, „ist, daß der unglückliche Müller kurz
or dem Überfall bei ihm war und auf den Inhalt
es Schrankes hingewiesen hat."
„Ja, ja, das ist wichtig," meinte der Schulze,
wrauf er an Emmerenz die Frage richtete, ob ihr
ltann denn um ihren Gang in das Dorf gewußt
abe.
„Er hat mich ja selber hingeschickt," antwortete
ie junge Frau arglos.
„Aus welchem Grunde?"
Emmerenz erzählte den Hergang.
Der Schulze zog den Pfarrer beiseite. „Zweifel-
s schickte er sie absichtlich fort, um sie aus den: Wege
i haben. Ich wundere mich nur, warum er den
ten Salzacker nicht ganz totgeschlagen hat. Er
ußte doch fürchten, verraten zu werden."
„Salzacker kehrte ihm doch den Rücken zu —
ck ihn ja gar nicht gesehen."
„Ganz recht. Und die Taubstumme brauchte er
cht zu fürchten. Er —"
Der Schulze wurde unterbrochen.
Der Gemeindediener hatte inzwischen eine ge-
mere Untersuchung vorgenommen, er kam jetzt
n unten herauf mit einer großen Axt in der Hand,
: er dem Schulzen triumphierend übergab. „Da
jen Sie — das Instrument, mit dem die Tat aus-
führt worden ist. Sehen Sie nur das Blut
erall — der Mörder hat mit der stumpfen Seite
geschlagen."
Der Schulze betrachtete aufmerksam die Axt.
öo habt Ihr sie gefunden, Hoppe?"
„Unten im Hof, in dem Laubhaufen vor dem
wten. Der Stiel guckte heraus."
„Kennen Sie die Axt, Frau Lahnert?"
Die junge Frau war tödlich erschrocken bei dem
Anblick. „Es ist unsere Axt," rief sie außer sich.
„Sie lag immer unten im Schuppen auf dem Hacke-
klotz."
„Wollen Sie noch immer n cht glauben, daß —"
„Er nicht — er kann so etwas nicht tun!" be-
harrte die junge Frau unter hervorquellenden
 
Annotationen