LO-
willig überließ, in die seine. „Das sind ja alles
Narrheiten. Darum löst man doch nicht kurz vor
der Hochzeit die Verlobung auf! Leo ist ein famoser
Mensch. Du konntest dir gratulieren, den zum Mann
zu bekommen. Darin hat Heilwig recht. Morgen
früh werde ich nach Rotenwalde reiten und mit Leo
sprechen. So einfach auseinanderlaufen könnt ihr
nicht."
„Ich will ihn heiraten, aber nur, wenn er mit
mir in England bleibt."
Weiter war nichts aus ihr herauszubringen.
Den Rest des Abends verbrachte Ines in ihrer
Stube. Sie schrieb lange Briefe und blätterte im
Kursbuch. —
Heilwig wäre am liebsten am anderen Tage mit
ihrem Mann nach Rotenwalde gefahren, um mit
Leo zu sprechen, denn sie traute Diersbrocks Takt,
zarte Angelegenheiten in Ordnung zu bringen, nicht
viel zu; aber sie wagte nicht, Ines allein zu lassen,
weil sie eine heimliche Abreise des jungen Mädchens
befürchtete. Und befand sich Ines erst in England
zwischen ihren Verwandten und Bekannten, dann
war alles verloren. Hier aber konnte sich durch eine
Aussprache über kurz oder lang noch alles zurecht-
ziehen.
Diersbrock brachte indessen bei seiner Rückkehr
keine günstigen Nachrichten mit. Er hatte Leo sehr
übellaunig angetroffen, fest entschlossen, seinerseits
nicht den ersten Schritt zur Versöhnung zu tun.
Natürlich sei er bereit, Ines zu heiraten, aber nur,
wenn das junge Mädchen ihren kränkenden Verdacht,
er habe Rotenwalde an sich bringen wollen, zurück-
nehme und sich einverstanden erkläre, abgesehen von
einer kurzen Reise nach England, mit ihm in Roten-
walde zu leben. Von diesen Bedingungen würde
er niemals abstehen.
„Fällt mir nicht ein, diese Versprechungen ab-
zugeben!" rief Ines ärgerlich, als Diersbrock ihr die
Bestellung ausrichtete. „Ich reise nach England und
bleibe dort, solange es mir gefällt. Wer mich sehen
will, mag mich dort aufsuchen."
„Leo sicherlich nicht," antwortete Heilwig be-
trübt. „Ines, wie konntest du Leo nur so kränken?
Ich habe, ehe ich dich kannte, oft gedacht, wie hübsch
es wäre, wenn Rotenwalde durch eure Heirat den
Oertzins verbliebe; aber Leo lagen solche Berech-
nungen sicherlich ganz fern."
„Nun, dann wird er ja auch nicht so sehr traun;
sein, daß diese Hoffnung nicht in Erfüllung geht."
„Doch. Denn er liebt dich."
Das junge Mädchen zuckte die Achseln. „Sein
Benehmen sieht recht wenig nach Liebe aus. —
Heilwig, wenn es dir recht ist, möchte ich morgen
nach Hamburg fahren und mich von dort oder von
Kuxhaven nach England einschiffen."
„Denkst du im Ernst daran, uns zu verlassen,
Ines?"
„Was soll ich denn noch hier? Für euch kann
meine Anwesenheit nur peinlich sein Leos wegen."
„Ihr braucht euch vorläufig nicht zu treffen,
wenn ihr nicht wollt. Später, wenn du zur Ver-
nunft gekommen bist, Ines —"
„Bitte, rede nicht weiter, Heilwig. Ich reise.
Meinen Verwandten schrieb ich schon, daß ich dem-
nächst kommen würde. Von Hamburg telegraphiere
ich meine Abfahrt. Niemand hat das Recht, mich
hier zurückzuhalten. Ich bin mündig."
„Sehrtöricht vom Gericht, ein so verdrehtes Däm-
chen für mündig zu erklären!" brummte Diersbrock. —
Heilwig schrieb einen langen Brief an Leo. Ein
Reitknecht ritt damit sofort nach Rotenwalde. Heil-
wig hoffte, Leo würde daraufhin nach Parchow
kommen. Aber der Bote kehrte nach einiger Zeit
zurück und brachte eine schriftliche Antwort.
„Liebe Heilwig," schrieb der junge Offizier.
„Ines ist für mündig erklärt und daher in ihren
Handlungen selbständig. Will sie nach England
reisen, so können wir sie nicht hindern. Versuche
sie zu bewegen, wenigstens eine Jungfer mitzu-
nehmen. Ihre Adresse muß sie der Gutsverwaltung
von Rotenwalde mitteilen, damit ihr die Gelder
und Abrechnungen pünktlich zugehen können. Bis
ich einen Pächter oder zuverlässigen Administrator
für Rotenwalde gefunden habe, bleibe ich hier und
verwalte das Gut. Das bin ich dem alten Onkel
und dem Namen Oertzin schuldig. Du hörst bald
mehr von mir."
Das war alles. Für Ines kein Gruß, keine
Botschaft.
Heilwig las den Brief vor.
Das junge Mädchen wurde ärgerlich rot. „Du
siehst, wie gleichgültig ihm alles ist, was mich be-
trifft," sagte sie gekränkt. „Meine Adresse werde
ich aufschreiben. Natürlich wohne ich in London
bei meiner Tante Clarke. Dort erreichen mich Briefe
und Sendungen."
Heilwig notierte sich genau Namen und Wohnung
von Mrs. Clarke. —
--—-- js)Z5 Ruch für ..-
Bis Hamburg wollte Ines der Jungfer gestatten,
sie zu begleiten. Von dort aus wollte sie allein
reisen. Während der Dampsschiffahrt fand man ja
genug Gesellschaft und Bedienung. In London
würde Tante Mary Clarke sie in Empfang nehmen.
Der Abschied wurde Ines schwerer, als sie selbst
gedacht hatte. Man lebt doch nicht monatelang mit
Menschen zusammen, ohne sich an sie zu gewöhnen.
Heilwigs sanfte, liebevolle Art wirkte unbemerkt
wohltuend. Die beiden wilden Jungen umklam-
merten die englische Tante und wollten sie nicht
weglassen.
„Zur Hochzeit mit Onkel Leo kommst du doch
zurück?" fragte Mäxchen.
„Heiratet nur recht schnell!" riet Hans. „Zur
Hochzeit gibt's Baumkuchen!"
„Ich schicke euch Seedkake und Plumpudding
aus London. Der schmeckt noch viel besser!" ver-
sprach Ines.
„Hast du nichts an Leo zu bestellen?" fragte
Heilwig, indem sie Konfekt und Butterbrot in Ines'
Das junge Mädchen schüttelte den Kopf. „Nichts!"
sagte sie kalt. „Er kennt ja meine Bedingungen."
„Und du seine. Was sich da wohl noch mal
herausalbert!" meinte Diersbrock verdrießlich. Die
zurückgegangene Verlobung ärgerte ihn.
Ines bog sich aus dem Fenster des abfahrenden
Wagens und umfaßte das Herrenhaus von Parchow
mit einem langen Abschiedsblick. Heilwig stand auf
der Treppe. Mäxchen lehnte sich an sie. Hans
kletterte am Geländer der Veranda herum. Diers-
brock, das Gewehr über der Schulter, pfiff seinem
Jagdhund. Das Bild verschwamm vor ihren Blicken.
Der Wagen durchfuhr in raschem Trabe die Allee
schattiger Kastanien. . Die goldenen Blattfächer
wehten leise. Dahinter lagen die fahlgelben Stoppel-
felderhellund hart in dem blassen Herbstsonnenschein.
Eine Mühle mit Sparrenflügeln drehte sich
langsam.
Vorüber — vorbei! Mit dieser Lebensepisodc
hatte sie abgeschlossen.
Sie wunderte sich selbst, daß sie keine jauchzende
Freude, eher eine gewisse Wehmut bei diesem Ge-
danken empfand. Die deutsche Sentimentalität und
Familiensimpelei schien sie wirklich angesteckt zu
haben. Die Abende in Heilwigs Salon waren ja
auch ganz gemütlich gewesen. Der rote Schein des
Kaminfeuers lief zuckend über die Ahnenbilder an
den Wänden. Lauter Oertzins mit den steifen Puder-
frisuren des siebzehnten und achtzehnten Jahr-
hunderts. Knisternde Feuerfunken sprühten auf den
blanken Messingvcrsetzer. In der sanften Dämme-
rung sang Heilwig mit ihrer weichen Altstimme ein
altes Volkslied. Leo legte den Arm um Ines' Taille.
„Wie reizend du aussiehst! Die Ofenhitze hat dein
eines Ohr ganz rot angeglüht. Das Haar glänzt
wie Gold, du kleine Märchenfee!"
„Tante Ines ist eine Fee! Verzaubere mich
mal in einen Bären!" hatte Mäxchen gerufen. Beide
Jungen ahmten das Bärengebrumm täuschend nach,
während sie auf allen vieren durch die Zimmer krochen.
Warum dachte sie nur jetzt an diese vergangenen
Stunden! Jetzt — im Augenblick der Freiheit!
Sie fühlte, wie ihr die Augen feucht wurden,
und zog schnell den schwarzen, dichten Kreppschleier
über ihr Gesicht, als sie merkte, das ihre Reisebeglei-
terinnen im Eisenbahnabteil sie neugierig musterten.
Den Versuchen, eine Unterhaltung mit ihr an-
zufangen, setzte Ines ein so hartnäckiges Schweigen
entgegen, daß die anderen Damen endlich beleidigt
verstummten. Trotzdem war das junge Mädchen
sehr froh, als die Eisenbahnfahrt ihr Ende erreicht
hatte. Sie ließ die ziemlich ungewandte Jungfer
aus Parchow, die sich in der belebten Großstadt gar
nicht zu benehmen wußte, im Hotel zurück und
machte allein eine Wanderung um das Alsterbecken.
Aber auch dabei mußte sie bemerken, daß sie trotz
der tiefen Trauer und des dichten Kreppschleiers
überall die Aufmerksamkeit auf sich zog. Das An-
starren der Vorübergehenden berührte sie so pein-
lich, daß sie sich in eine Konditorei flüchtete.
Eine gedrückte, mutlose Stimmung bemächtigte
sich ihrer. Sie wagte nicht mehr, wie sie zuerst
beabsichtigt, einen Wagen zu nehmen, durch die
Stadt zu fahren und in einem eleganten Restaurant
Abendbrot zu essen. Müde und gelangweilt blätterte
sie in alten Journalen und vergilbten Zeitungen,
die in dem stickigen Zimmer der Konditorei auf den
runden Marmortischen lagen.
Wie anders wäre der Tag verlaufen, wenn sie
mit Leo hier auf der Hochzeitsreise gewesen wäre!
Wie gut hätten sie sich dann unterhalten können!
Ein auf der Straße gehender Herr erregte plötz-
lich ihre Aufmerksamkeit. Etwas am Gang und der
Haltung fiel ihr auf. Sollte das Leo sein? Vielleicht
hatte er von Heilwig ihren Aufenthalt erfahren und
kam ihr nachgereist?
.-.. . . .— tzest §
Statt sich zu verbergen, machte Ines das Fenster
weit auf und beugte sich hinaus. Aber als sie schärfer
hinsah, bemerkte sie, daß es ein ihr völlig Fremder
war.
Enttäuscht ließ sie den Vorhang über die Scheiben
fallen. Noch eine ganze Zeit nachher schlug ihr daS
Herz heftig.
Da sie nicht wußte, wie sie die Stunden bis zur
Abfahrt des Dampfers hinbringen sollte, entschloß
sie sich, lieber noch heute abend nach Kuxhaven zu
fahren, an Bord des bereits dort liegenden Dampfers
zu gehen und in der Kajüte zu schlafen.
Entschluß und Ausführung standen bei Ines stets
auf einem Blatt. Sie entließ die Jungfer und
erreichte auch glücklich noch den letzten Zug nach
Kuxhaven.
Die Abendluft belebte sie. Zerrissene Wolkenfetzen
jagten über den grünlichen Abendhimmel. Eine
blasse Mondsichel schwamm über den Wogen. Weiß-
silberne Möwen umschwirrten das Schiff. Ines saß
am Fenster ihrer Kajüte. Die Stewardeß breitete
ein weißes Laken über das schmale, leise hin und
her schaukelnde Betü Die Frau plauderte allerlei
und meinte, die Überfahrt würde ganz ruhig werden.
Das sagte sie jedem Ankommenden. Sie riet dem
jungen Mädchen, sogleich zu Abend zu essen und sich
dann niederzulegen. Aber Ines beachtete den Rat
nicht.
Ein einsamer Stern schien durch das trüb an-
gelaufene Fensterglas zu ihr herein. Eine unergründ-
liche Wehmut, ein leise nagendes Schnldbewußtsein
quälte sie. Sie fühlte sich ebenso fremd wie der
einsame Abendstern in dem weiten Himmelsraum.
Das langsame, sanfte Schaukeln des verankerten
Schiffes wiegte sie endlich in einen tiefen, traum-
losen Schlaf. —
Am anderen Morgen erwachte sie von dem Ziehen
der Taue und den lauten Menschenstimmen. Das
Wasser spritzte seine Schaumperlen gegen das
Kajütenfenster.
Diesmal hatte die Stewardeß richtig prophezeit.
Die Reise verlief sehr glatt. Nach vierzigstündiger
Fahrt sah man rechts und links vom Schiff aus
dem Wasser auftauchend einen winzigen fernen
grünen Streifen — England!
Man fing an, seinen grünlichen Spitzensaum zu
erkennen. In der riesenhaften Flußmündung er-
schien das flache Land nur wie ein Lehmstreifcn,
alle Farben verwaschen und erloschen.
Zur Rechten näherte sich dann das Ufer — nun
schon eine echte englische Landschaft, von mattgrüncn
Hecken zerteilt, von vereinzelten Bäumen umstandene
Hügel, umfriedete Weiden, eine neben der anderen.
Das Wasser der Themse war schmutzig, von fahlen,
verwischten Farbentönen getrübt. Die kleinen auf-
gesträubten Wellen sahen in dem kohligen Nebel-
dunst unheimlich aus. Schiffe zogen vorbei, große
und kleine in jeglicher Gestalt, von jeglichem Um-
fang. Die meisten schwer beladen. Matrosen kletter-
ten oben im Tauwerk wie Spinnen herum.
Mit jeder Viertelstunde wurden die Spuren der
Menschen immer sichtbarer. Docke, Speicher, Holz-
höfe, Wohnhäuser, Materialienlager kamen in Sicht.
Ines' gespannte Aufmerksamkeit verwandelte sich
schließlich in Ermüdung. Die Hände im Schoß ver-
schlungen, saß sie auf ihrem kleinen Klappstuhl und
ließ die Bilder an sich vorüberziehen. Der ganze
Fluß war nur noch eine Straße von einer Meile
Breite, auf der die Schiffe hinauf und herunter zogen,
zwischen zwei Reihen von Bauten, endlosen, dunkel-
roten Reihen aus Lehm und Ziegel, die gesäumt
wurden von großen, in die Ufer eingerammten
Pflöcken, um die Schiffe zu halten, die hier zum
Laden und Löschen anlegten.
Die schwere, kohlige Luft legte sich dem jungen
Mädchen beklemmend aufs Herz. Vergebens sagte
sie sich: „In wenigen Augenblicken werde ich den
Heimatboden betreten, Tante Mary und Muriel
Wiedersehen!" Sie konnte das Gefühl der Freude
nicht wachrufen beim Anblick der Riesenstadt, die
eine mächtige Rauch- und Dunstwolke einhüllte.
Die Sonne ließ einen feinen Goldregen durch-
sickern und entlockte den glitzernden, bräunlichvioletten
Wasserwellen seltsam blinkenden Widerschein. Das
Flimmern der Wellen, das Glitzern des in Dunst
gefangenen Lichts legte sich wie ein Lächeln der
Anmut über die tiefe Melancholie des dunklen
Häusermeers und des schwarz aufragenden Masten-
waldes.
Zehntes Kapitel, -
„Jst mein Telegramm aus Hamburg nicht an-
gekommen?" fragte Ines bestürzt.
Der Diener sah sie ratlos an. „Ein Telegramm?
Ich weiß von nichts!"
„So erwartet Mrs. Clarke mich nicht?"
„Mrs. Clarke ist mit Miß Mabel ausgefahren und
kommt erst gegen Abend wieder."
willig überließ, in die seine. „Das sind ja alles
Narrheiten. Darum löst man doch nicht kurz vor
der Hochzeit die Verlobung auf! Leo ist ein famoser
Mensch. Du konntest dir gratulieren, den zum Mann
zu bekommen. Darin hat Heilwig recht. Morgen
früh werde ich nach Rotenwalde reiten und mit Leo
sprechen. So einfach auseinanderlaufen könnt ihr
nicht."
„Ich will ihn heiraten, aber nur, wenn er mit
mir in England bleibt."
Weiter war nichts aus ihr herauszubringen.
Den Rest des Abends verbrachte Ines in ihrer
Stube. Sie schrieb lange Briefe und blätterte im
Kursbuch. —
Heilwig wäre am liebsten am anderen Tage mit
ihrem Mann nach Rotenwalde gefahren, um mit
Leo zu sprechen, denn sie traute Diersbrocks Takt,
zarte Angelegenheiten in Ordnung zu bringen, nicht
viel zu; aber sie wagte nicht, Ines allein zu lassen,
weil sie eine heimliche Abreise des jungen Mädchens
befürchtete. Und befand sich Ines erst in England
zwischen ihren Verwandten und Bekannten, dann
war alles verloren. Hier aber konnte sich durch eine
Aussprache über kurz oder lang noch alles zurecht-
ziehen.
Diersbrock brachte indessen bei seiner Rückkehr
keine günstigen Nachrichten mit. Er hatte Leo sehr
übellaunig angetroffen, fest entschlossen, seinerseits
nicht den ersten Schritt zur Versöhnung zu tun.
Natürlich sei er bereit, Ines zu heiraten, aber nur,
wenn das junge Mädchen ihren kränkenden Verdacht,
er habe Rotenwalde an sich bringen wollen, zurück-
nehme und sich einverstanden erkläre, abgesehen von
einer kurzen Reise nach England, mit ihm in Roten-
walde zu leben. Von diesen Bedingungen würde
er niemals abstehen.
„Fällt mir nicht ein, diese Versprechungen ab-
zugeben!" rief Ines ärgerlich, als Diersbrock ihr die
Bestellung ausrichtete. „Ich reise nach England und
bleibe dort, solange es mir gefällt. Wer mich sehen
will, mag mich dort aufsuchen."
„Leo sicherlich nicht," antwortete Heilwig be-
trübt. „Ines, wie konntest du Leo nur so kränken?
Ich habe, ehe ich dich kannte, oft gedacht, wie hübsch
es wäre, wenn Rotenwalde durch eure Heirat den
Oertzins verbliebe; aber Leo lagen solche Berech-
nungen sicherlich ganz fern."
„Nun, dann wird er ja auch nicht so sehr traun;
sein, daß diese Hoffnung nicht in Erfüllung geht."
„Doch. Denn er liebt dich."
Das junge Mädchen zuckte die Achseln. „Sein
Benehmen sieht recht wenig nach Liebe aus. —
Heilwig, wenn es dir recht ist, möchte ich morgen
nach Hamburg fahren und mich von dort oder von
Kuxhaven nach England einschiffen."
„Denkst du im Ernst daran, uns zu verlassen,
Ines?"
„Was soll ich denn noch hier? Für euch kann
meine Anwesenheit nur peinlich sein Leos wegen."
„Ihr braucht euch vorläufig nicht zu treffen,
wenn ihr nicht wollt. Später, wenn du zur Ver-
nunft gekommen bist, Ines —"
„Bitte, rede nicht weiter, Heilwig. Ich reise.
Meinen Verwandten schrieb ich schon, daß ich dem-
nächst kommen würde. Von Hamburg telegraphiere
ich meine Abfahrt. Niemand hat das Recht, mich
hier zurückzuhalten. Ich bin mündig."
„Sehrtöricht vom Gericht, ein so verdrehtes Däm-
chen für mündig zu erklären!" brummte Diersbrock. —
Heilwig schrieb einen langen Brief an Leo. Ein
Reitknecht ritt damit sofort nach Rotenwalde. Heil-
wig hoffte, Leo würde daraufhin nach Parchow
kommen. Aber der Bote kehrte nach einiger Zeit
zurück und brachte eine schriftliche Antwort.
„Liebe Heilwig," schrieb der junge Offizier.
„Ines ist für mündig erklärt und daher in ihren
Handlungen selbständig. Will sie nach England
reisen, so können wir sie nicht hindern. Versuche
sie zu bewegen, wenigstens eine Jungfer mitzu-
nehmen. Ihre Adresse muß sie der Gutsverwaltung
von Rotenwalde mitteilen, damit ihr die Gelder
und Abrechnungen pünktlich zugehen können. Bis
ich einen Pächter oder zuverlässigen Administrator
für Rotenwalde gefunden habe, bleibe ich hier und
verwalte das Gut. Das bin ich dem alten Onkel
und dem Namen Oertzin schuldig. Du hörst bald
mehr von mir."
Das war alles. Für Ines kein Gruß, keine
Botschaft.
Heilwig las den Brief vor.
Das junge Mädchen wurde ärgerlich rot. „Du
siehst, wie gleichgültig ihm alles ist, was mich be-
trifft," sagte sie gekränkt. „Meine Adresse werde
ich aufschreiben. Natürlich wohne ich in London
bei meiner Tante Clarke. Dort erreichen mich Briefe
und Sendungen."
Heilwig notierte sich genau Namen und Wohnung
von Mrs. Clarke. —
--—-- js)Z5 Ruch für ..-
Bis Hamburg wollte Ines der Jungfer gestatten,
sie zu begleiten. Von dort aus wollte sie allein
reisen. Während der Dampsschiffahrt fand man ja
genug Gesellschaft und Bedienung. In London
würde Tante Mary Clarke sie in Empfang nehmen.
Der Abschied wurde Ines schwerer, als sie selbst
gedacht hatte. Man lebt doch nicht monatelang mit
Menschen zusammen, ohne sich an sie zu gewöhnen.
Heilwigs sanfte, liebevolle Art wirkte unbemerkt
wohltuend. Die beiden wilden Jungen umklam-
merten die englische Tante und wollten sie nicht
weglassen.
„Zur Hochzeit mit Onkel Leo kommst du doch
zurück?" fragte Mäxchen.
„Heiratet nur recht schnell!" riet Hans. „Zur
Hochzeit gibt's Baumkuchen!"
„Ich schicke euch Seedkake und Plumpudding
aus London. Der schmeckt noch viel besser!" ver-
sprach Ines.
„Hast du nichts an Leo zu bestellen?" fragte
Heilwig, indem sie Konfekt und Butterbrot in Ines'
Das junge Mädchen schüttelte den Kopf. „Nichts!"
sagte sie kalt. „Er kennt ja meine Bedingungen."
„Und du seine. Was sich da wohl noch mal
herausalbert!" meinte Diersbrock verdrießlich. Die
zurückgegangene Verlobung ärgerte ihn.
Ines bog sich aus dem Fenster des abfahrenden
Wagens und umfaßte das Herrenhaus von Parchow
mit einem langen Abschiedsblick. Heilwig stand auf
der Treppe. Mäxchen lehnte sich an sie. Hans
kletterte am Geländer der Veranda herum. Diers-
brock, das Gewehr über der Schulter, pfiff seinem
Jagdhund. Das Bild verschwamm vor ihren Blicken.
Der Wagen durchfuhr in raschem Trabe die Allee
schattiger Kastanien. . Die goldenen Blattfächer
wehten leise. Dahinter lagen die fahlgelben Stoppel-
felderhellund hart in dem blassen Herbstsonnenschein.
Eine Mühle mit Sparrenflügeln drehte sich
langsam.
Vorüber — vorbei! Mit dieser Lebensepisodc
hatte sie abgeschlossen.
Sie wunderte sich selbst, daß sie keine jauchzende
Freude, eher eine gewisse Wehmut bei diesem Ge-
danken empfand. Die deutsche Sentimentalität und
Familiensimpelei schien sie wirklich angesteckt zu
haben. Die Abende in Heilwigs Salon waren ja
auch ganz gemütlich gewesen. Der rote Schein des
Kaminfeuers lief zuckend über die Ahnenbilder an
den Wänden. Lauter Oertzins mit den steifen Puder-
frisuren des siebzehnten und achtzehnten Jahr-
hunderts. Knisternde Feuerfunken sprühten auf den
blanken Messingvcrsetzer. In der sanften Dämme-
rung sang Heilwig mit ihrer weichen Altstimme ein
altes Volkslied. Leo legte den Arm um Ines' Taille.
„Wie reizend du aussiehst! Die Ofenhitze hat dein
eines Ohr ganz rot angeglüht. Das Haar glänzt
wie Gold, du kleine Märchenfee!"
„Tante Ines ist eine Fee! Verzaubere mich
mal in einen Bären!" hatte Mäxchen gerufen. Beide
Jungen ahmten das Bärengebrumm täuschend nach,
während sie auf allen vieren durch die Zimmer krochen.
Warum dachte sie nur jetzt an diese vergangenen
Stunden! Jetzt — im Augenblick der Freiheit!
Sie fühlte, wie ihr die Augen feucht wurden,
und zog schnell den schwarzen, dichten Kreppschleier
über ihr Gesicht, als sie merkte, das ihre Reisebeglei-
terinnen im Eisenbahnabteil sie neugierig musterten.
Den Versuchen, eine Unterhaltung mit ihr an-
zufangen, setzte Ines ein so hartnäckiges Schweigen
entgegen, daß die anderen Damen endlich beleidigt
verstummten. Trotzdem war das junge Mädchen
sehr froh, als die Eisenbahnfahrt ihr Ende erreicht
hatte. Sie ließ die ziemlich ungewandte Jungfer
aus Parchow, die sich in der belebten Großstadt gar
nicht zu benehmen wußte, im Hotel zurück und
machte allein eine Wanderung um das Alsterbecken.
Aber auch dabei mußte sie bemerken, daß sie trotz
der tiefen Trauer und des dichten Kreppschleiers
überall die Aufmerksamkeit auf sich zog. Das An-
starren der Vorübergehenden berührte sie so pein-
lich, daß sie sich in eine Konditorei flüchtete.
Eine gedrückte, mutlose Stimmung bemächtigte
sich ihrer. Sie wagte nicht mehr, wie sie zuerst
beabsichtigt, einen Wagen zu nehmen, durch die
Stadt zu fahren und in einem eleganten Restaurant
Abendbrot zu essen. Müde und gelangweilt blätterte
sie in alten Journalen und vergilbten Zeitungen,
die in dem stickigen Zimmer der Konditorei auf den
runden Marmortischen lagen.
Wie anders wäre der Tag verlaufen, wenn sie
mit Leo hier auf der Hochzeitsreise gewesen wäre!
Wie gut hätten sie sich dann unterhalten können!
Ein auf der Straße gehender Herr erregte plötz-
lich ihre Aufmerksamkeit. Etwas am Gang und der
Haltung fiel ihr auf. Sollte das Leo sein? Vielleicht
hatte er von Heilwig ihren Aufenthalt erfahren und
kam ihr nachgereist?
.-.. . . .— tzest §
Statt sich zu verbergen, machte Ines das Fenster
weit auf und beugte sich hinaus. Aber als sie schärfer
hinsah, bemerkte sie, daß es ein ihr völlig Fremder
war.
Enttäuscht ließ sie den Vorhang über die Scheiben
fallen. Noch eine ganze Zeit nachher schlug ihr daS
Herz heftig.
Da sie nicht wußte, wie sie die Stunden bis zur
Abfahrt des Dampfers hinbringen sollte, entschloß
sie sich, lieber noch heute abend nach Kuxhaven zu
fahren, an Bord des bereits dort liegenden Dampfers
zu gehen und in der Kajüte zu schlafen.
Entschluß und Ausführung standen bei Ines stets
auf einem Blatt. Sie entließ die Jungfer und
erreichte auch glücklich noch den letzten Zug nach
Kuxhaven.
Die Abendluft belebte sie. Zerrissene Wolkenfetzen
jagten über den grünlichen Abendhimmel. Eine
blasse Mondsichel schwamm über den Wogen. Weiß-
silberne Möwen umschwirrten das Schiff. Ines saß
am Fenster ihrer Kajüte. Die Stewardeß breitete
ein weißes Laken über das schmale, leise hin und
her schaukelnde Betü Die Frau plauderte allerlei
und meinte, die Überfahrt würde ganz ruhig werden.
Das sagte sie jedem Ankommenden. Sie riet dem
jungen Mädchen, sogleich zu Abend zu essen und sich
dann niederzulegen. Aber Ines beachtete den Rat
nicht.
Ein einsamer Stern schien durch das trüb an-
gelaufene Fensterglas zu ihr herein. Eine unergründ-
liche Wehmut, ein leise nagendes Schnldbewußtsein
quälte sie. Sie fühlte sich ebenso fremd wie der
einsame Abendstern in dem weiten Himmelsraum.
Das langsame, sanfte Schaukeln des verankerten
Schiffes wiegte sie endlich in einen tiefen, traum-
losen Schlaf. —
Am anderen Morgen erwachte sie von dem Ziehen
der Taue und den lauten Menschenstimmen. Das
Wasser spritzte seine Schaumperlen gegen das
Kajütenfenster.
Diesmal hatte die Stewardeß richtig prophezeit.
Die Reise verlief sehr glatt. Nach vierzigstündiger
Fahrt sah man rechts und links vom Schiff aus
dem Wasser auftauchend einen winzigen fernen
grünen Streifen — England!
Man fing an, seinen grünlichen Spitzensaum zu
erkennen. In der riesenhaften Flußmündung er-
schien das flache Land nur wie ein Lehmstreifcn,
alle Farben verwaschen und erloschen.
Zur Rechten näherte sich dann das Ufer — nun
schon eine echte englische Landschaft, von mattgrüncn
Hecken zerteilt, von vereinzelten Bäumen umstandene
Hügel, umfriedete Weiden, eine neben der anderen.
Das Wasser der Themse war schmutzig, von fahlen,
verwischten Farbentönen getrübt. Die kleinen auf-
gesträubten Wellen sahen in dem kohligen Nebel-
dunst unheimlich aus. Schiffe zogen vorbei, große
und kleine in jeglicher Gestalt, von jeglichem Um-
fang. Die meisten schwer beladen. Matrosen kletter-
ten oben im Tauwerk wie Spinnen herum.
Mit jeder Viertelstunde wurden die Spuren der
Menschen immer sichtbarer. Docke, Speicher, Holz-
höfe, Wohnhäuser, Materialienlager kamen in Sicht.
Ines' gespannte Aufmerksamkeit verwandelte sich
schließlich in Ermüdung. Die Hände im Schoß ver-
schlungen, saß sie auf ihrem kleinen Klappstuhl und
ließ die Bilder an sich vorüberziehen. Der ganze
Fluß war nur noch eine Straße von einer Meile
Breite, auf der die Schiffe hinauf und herunter zogen,
zwischen zwei Reihen von Bauten, endlosen, dunkel-
roten Reihen aus Lehm und Ziegel, die gesäumt
wurden von großen, in die Ufer eingerammten
Pflöcken, um die Schiffe zu halten, die hier zum
Laden und Löschen anlegten.
Die schwere, kohlige Luft legte sich dem jungen
Mädchen beklemmend aufs Herz. Vergebens sagte
sie sich: „In wenigen Augenblicken werde ich den
Heimatboden betreten, Tante Mary und Muriel
Wiedersehen!" Sie konnte das Gefühl der Freude
nicht wachrufen beim Anblick der Riesenstadt, die
eine mächtige Rauch- und Dunstwolke einhüllte.
Die Sonne ließ einen feinen Goldregen durch-
sickern und entlockte den glitzernden, bräunlichvioletten
Wasserwellen seltsam blinkenden Widerschein. Das
Flimmern der Wellen, das Glitzern des in Dunst
gefangenen Lichts legte sich wie ein Lächeln der
Anmut über die tiefe Melancholie des dunklen
Häusermeers und des schwarz aufragenden Masten-
waldes.
Zehntes Kapitel, -
„Jst mein Telegramm aus Hamburg nicht an-
gekommen?" fragte Ines bestürzt.
Der Diener sah sie ratlos an. „Ein Telegramm?
Ich weiß von nichts!"
„So erwartet Mrs. Clarke mich nicht?"
„Mrs. Clarke ist mit Miß Mabel ausgefahren und
kommt erst gegen Abend wieder."