Vas Luch für Mle
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„Besuch ist auch hier?"
„Miß Mabel ist seit einigen Wochen da."
Der Diener verschwand, froh, die Verantwortung
auf andere Schultern abwälzen zu können. Denn
er wußte nicht, ob er die junge Dame, die der Haus-
herrin Nichte zu sein vorgab, einlassen dürfe.
Zum Glück erkannte Mrs. Parker, die Haus-
hälterin, Ines fofort.
„Was ist denn das für ein Mißverständnis, liebe
Parker?" klagte Ines, nachdem fie die Haushälterin
begrüßt hatte.
Mrs. Parker gab ihrer großen weißen Mullhaube,
die unter dem Kinn zu einer imposanten Schleife
zufammengebunden war, einen energischen Ruck.
„Ich weiß gar nichts, Miß Ines. Vor einigen Tagen
meinte aber Mrs. Clarke, fie habe Ihnen abtele-
graphiert, weil Ihr Kommen ihr jetzt nicht paffe."
„Das ist ja eine recht angenehme Botschaft!"
Ines war das Weinen nahe. Sie war auch sehr
müde von der langen Seefahrt. Das Ankommen
m diesem Hause, das einst ihre Heimat war, ge-
staltete sich so ganz anders, als sie es sich ausgemalt
hatte. Schon beim Landen des Schiffes hatte sie
sicher erwartet, von Mrs. Clarke mit größter Zärt-
lichkeit in Empfang genommen zu werden. Aber
weder Mrs. Clarke selbst noch ein Diener ließen sich
blicken. Sie mußte sich in dem Gedränge selbst durch-
finden, lange bei der Zollrevision umherstehen und
endlich in einer Droschke den weiten Weg bis Ken-
sington, Albert Gate, zurücklegen.
Mrs. Parkers rundes Gesicht mit dem wohl-
wollenden Doppelkinn trug einen bekümmerten Aus-
druck. Überraschungen liebte sie durchaus nicht. Ines
in einem Fremdenzimmer unterzubringen, dessen
Bett nicht vorher gelüftet, dessen Parkett nicht ge-
bürstet werden konnte, das ging gegen ihre Ehre
als Beschließerin eines anständigen Hauses.
„Kann ich nicht wieder in meinem alten Zimmer
schlafen?" fragte Ines, während sie neben der Haus-
hälterin über die mit Teppichen und Wachstuch be-
legten Treppen ging.
„Ihr früheres Zimmer, Miß? Nein, das be-
wohnt jetzt Miß Mabel, weil es neben Mrs. Clarkes
Schlafstube liegt."
„Wer ist denn nur diese geheimnisvolle Miß
Mabel, die meinen Platz einnimmt?" fragte Ines
ärgerlich.
„Miß Mabel ist Mrs. Clarkes Nichte."
„Unsinn! Mrs. Clarkes Nichte bin ich."
„Das weiß ich nicht, Miß. Mrs. Clarke nennt
Miß Mabel ihre Nichte. Miß Mabel nimmt noch
Unterricht. Bald aber wird Mrs. Clarke sie bei Hof
vorstellen."
Ines kannte Tante Marys Eigentümlichkeit, sich
immer nur für eine Person zu begeistern und sich
ausschließlich mit dieser zu beschäftigen. Früher war
sie das gewesen. Jetzt schien ihre Stelle von Miß
Mabel völlig besetzt zu sein.
Mrs. Parker öffnete die Tür eines Fremden-
zimmers und versprach, für Kaminfeuer und Tee
zu sorgen.
Der ganze in Rotcnwalde so schmerzlich vermißte
englische Komfort umgab Ines hier wieder. Groß-
artig und doch einfach war das Zimmer eingerichtet,
in dem man atmen, umhergehen konnte, ohne Furcht
zu haben, sich an den Möbeln zu stoßen. Größte
Aufmerksamkeit war der Bequemlichkeit und allem
zugewandt, was die Einzelheiten der Toilette und
des Schlafens betraf. Ein großer durchgehender
Teppich, Wachstuch vor dem Waschtisch, Strohmatten
am unteren Teil der Wände, ein großer Toiletten-
tisch mit beweglichem Spiegel, ein Waschservice, auf
dem sich das Rosenmuster der Wände und Möbel
wiederholte, riesige Zinkwannen, um sich darin ab-
zuspülen, und plüschartig dicke Handtücher zum
Trocknen.
Aber trotz all der langentbehrten Annehmlich-
keiten fühlte Ines sich niedergedrückt und traurig.
Sie trat ans Fenster, das auf den Hydepark hinaus-
ging. Die kahlen Baumwipfel, die der Wind gegen-
einander schlug, der leise rieselnde Regennnd der graue
Nebel machten sie noch melancholischer. Trotzdem
ließ sie sich nicht bewegen, in den Salon zu gehen,
obgleich ihre Anwesenheit Mrs. Parker und das
Hausmädchen beim Herrichten des Zimmers störte.
Auch der Koffer blieb vorläufig unausgepackt. Am
liebsten wäre sie sofort zu Muriel geeilt; aber ehe
sie die Tante nicht gesprochen hatte, mochte sie das
Haus nicht verlassen.
Ein trübseliger Nachmittag! Sie versuchte zu
lesen, aber ihre Gedanken irrten immer wieder ab.
Erst gegen Abend kamen Mrs. Clarke und ihre Be-
gleiterin nach Hanse. Ines hörte ihre Stimmen
auf dem Korridor. Die Beschließerin berichtete die
überraschende Ankunft des jungen Mädchens.
Mrs. Clarke schien keineswegs erbaut von der
Nachricht zu sein. „Das trifft sich wirklich schlecht!"
lagte sie mürrisch.
Eine Helle Stimme antwortete mit deutlicher
Entrüstung: „Lauge kann sie jedenfalls nicht bleiben,
denn wir wollen doch verreisen!"
„Nicht so laut!" verwies Mrs. Clarke. — „Parker,
welches Zimmer gaben Sie Miß Ines? Die Tür
rechts? Gut. — Mabel, du sollst nicht um deine
Reise kommen, verlaß dich auf mich."
Dies alles hörte Ines ganz genau. Im nächsten
Augenblick erwartete sie, daß Mrs. Clarke bei ihr
eintreten und sie begrüßen würde. Aber die Schritte
gingen vorüber. Die Stimmen verklangen.
Der Gong läutete bald darauf. Ines stieg die
wohlbekannte Treppe hinab in die Halle.
In zwei Kaminen loderte Helles Holzfeuer. Auf
dem Mitteltisch lagen Zeitungen, Journale, Bücher
und Bildermappen. Den Fußboden bedeckten Helle
Bastteppiche. Die Fenster verhüllten leichte, bunte
Musselinstcres. Korbstühle in allen Farben und
Formen umstanden den Tisch. Auf den Rück- und
Seitenlehnen lagen weiche Daunenkissen mit ge-
blümter indischer Seide bezogen, deren lebhafte
Farbenmuster in dem Schein der tief herabgezogenen
Hängelampe über dem Mitteltisch leuchteten.
In einer kleinen orientalischen Ampel schwelten
ein paar Räucherkerzen. Der wohlvertrante, Duft
entlockte Ines fast Tränen. Er rief ihr so schöne
Stunden zurück, die sie hier mit Muriel und Tante
Mary verbracht hatte. War das möglich, daß sie
jetzt wie eine Fremde auf ihre Wirtin warten mußte,
während sie gehofft hatte, wie ein schmerzlich ent-
behrtes Kind des Hauses empfangen zu werden?
Ihr Stolz litt Folterqualen.
Endlich erschien Mrs. Clarke in geschmackvoller
Abendtoilette, neben ihr ging Mabel in weißem
Mullkleid und hellblauer Schärpe — der Typus der
blonden, kräftigen jungen Engländerin, mit zu langen
Zähnen, derben Knochen, gutgepflegtem Haar und
von zu eifrigem Tennisspielen sommersprossigem
Gesicht. Ines empfand sofort eine lebhafte Ab-
neigung gegen ihre Rivalin.
Mrs. Clarke umarmte ihre Nichte mit etwas ver-
legenen Entschuldigungen. „Unsere Briefe müssen
sich gekreuzt haben, Ines?"
„Ich telegraphierte dir von Hamburg aus mein
Kommen, Tante," entgegnete Ines. „Deine Gegen-
order konnte mich während der Seefahrt natürlich
nicht erreichen."
„Nein, das hätte ich bedenken sollen. — Dies
ist Mabel, liebe Ines, die Tochter einer verstorbenen
Jugendfreundin. Sie nimmt noch Musik- uud Mal-
unterricht. Der Bequemlichkeit wegen nenne ich
Mabel meine Nichte, sonst gibt es ewig langatmige
Auseinandersetzungen."
Ines drückte die ihr schlaff hingchaltene Hand
der jungen Engländerin nur flüchtig. Mabel schien
ihr sofort instinktiv die Abneigung zurückzugeben. Die
Hellen Augen mit den kurzen weißblonden Wimpern
musterten Ines' elegante Erscheinung in dem schwar-
zen, langschleppenden Krcppkleid vom Kopf bis zu
den Füßen.
„Es tut mir leid, dir Unbequemlichkeiten zu ver-
ursachen, Tante," sagte Ines steif. „Hätte ich ge-
ahnt, daß mein Kommen nicht paßt —"
„Oh, es macht nichts. Einige Zeit bleibe ich
noch hier," meinte Mrs. Clarke leichthin. „Lange
wird dein Bräutigam dich gewiß nicht entbehren
wollen."
Ines errötete. Sie hatte von Parchow aus nur
ihr Kommen nach England, aber nicht die Auflösung
ihrer Verlobung erwähnt. Das schrieb sie nur an
Muriel. Der Tante wollte sie lieber mündlich alles
sagen. Nie wären ihr Zweifel an Mrs. Clarkes
begeisterter Zustimmung zu diesem Entschluß ge-
kommen. Heute zum ersten Male fühlte sie einen
unbestimmten Argwohn in sich aufsteigen.
Die etwas unbehagliche Pause unterbrach der
glattrasierte Diener, der das Essen meldete.
Zwei Diener servierten lautlos. Auch im Speise-
zimmer brannte das Feuer im Kamin mit behag-
lichem Knistern. Der Tisch funkelte von Silber und
Kristall. Weiße und gelbe Chrysanthemen, mit rotem
Weinlaub vermischt, füllten die Schalen.
Mrs. Clarke sah ihre Nichte oft fragend von der
Seite an. Irgend etwas bei der plötzlichen Rückkehr
nach England konnte nicht stimmen und kam ihr
verdächtig vor. Sie hatte Ines sehr liebgehabt, so-
lange sie ihr die Beschäftigung bot, ihre Erziehung
zu leiten, Toiletten zu besorgen und so weiter. Jetzt
nahm Mabel Jonas die Stelle von Ines vollständig
ein. Die junge Dame wollte sich in der Musik aus-
bilden. Ein Plan, bei dem ihre völlige Talentlosig-
keit sie nicht im geringsten störte.
Auch Mrs. Clarke interessierte Mabels Studium
so lebhaft, daß sie vollkommen davon ausgefüllt
war. Den Winter wollten sie in Rom verbringen.
Daran würde sich die Season in London schließen.
Da Mabel sehr reich war, konnte es nicht schwer
sein, sie bald glänzend zu verloben. Diese Hoffnungen
verdrängten die einst geliebte Ines und deren Zu-
kunftsaussichten vollständig aus Mrs. Clarkes Ge-
danken.
Erst als sie beim Kaffee wieder um den runden
Mitteltisch der Halle saßen und Mabel auf dem
schräg ins Zimmer hineinstehenden Flügel eine Cho-
pinsche Etüde begann, die dem Fleiß und der Talent-
losigkeit der Spielerin gleicherweise ein glänzendes
Zeugnis ausstellte, fragte Mrs. Clarke eingehender
nach Ines' Plänen.
Das junge Mädchen berichtete kurz von ihrer
aufgehobenen Verlobung, mit der Mrs. Clarke wenig
einverstanden zu sein schien. Die Gründe kamen
ihr nicht stichhaltig vor, denn Ines paßte augenblick-
lich nicht in ihr Leben hinein.
„Mir scheint, du hast sehr voreilig gehandelt,"
tadelte sie. „Erst diese rasche Verlobung und nun
diese plötzliche Lösung. Hast du etwas Ungünstiges
über deinen früheren Bräutigam gehört?"
„Nicht das geringste. Im Gegenteil. Jeder,
der Leo kennt, schätzt ihn," rief Ines lebhaft. Sie
sprach aber dann mit gedämpfter Stimme weiter,
weil sie bemerkte, daß Mabel im leisesten Piano
spielte und wahrscheinlich dabei mit gespitzten Ohren
lauschte. „Ich bin Leo sehr gut, Tante Mary, wirk-
lich sehr — und er liebt mich auch."
„Nun, dann muß ich gestehen, da befinde ich
mich völlig im Dunkeln, liebes Kind," entgegnete
Mrs. Clarke ärgerlich. „Wenn er dich liebt und
dn ihn, weshalb heiratet ihr denn nicht?"
„Weil Leo verlangt, daß ich mit ihm in Deutsch-
land leben soll."
„Wenn man sich mit einem deutschen Offizier
verlobt, muß man auch die Konsequenzen tragen."
„Früher sprachst du anders, Tante Mary!"
„Wärest du nie nach Deutschland gegangen, hätte
ich dich in London ausführen und passend verheiraten
können. Dann konnte ich auch deine Zukunft nach
Wunsch gestalten. Aber jetzt bei den verzwickten
Geld- und Rechtsverhältnissen von Notenwalde —"
„Da fändest du es besser, ich wäre dort geblieben?"
Mrs. Clarke sagte weder ja noch nein. Ihr miß-
billigendes Schweigen verdroß und kränkte Ines.
Gern hätte sie der Tante noch alles ausführlicher
erklärt, aber Mabel klappte den Deckel des Flügels
geräuschvoll zu und setzte sich zwischen Tante und
Nichte. Die zurückgegangene Verlobung interessierte
sie. Ihre nicht sehr taktvollen Fragen verdrossen
Ines so, daß sie kaum antwortete.
Mrs. Clarke tauschte mit Mabel bedeutsame Blicke.
Ines ärgerte sich immer mehr. „Tante Mary,
siehst du Muriel oft?" fragte sie schnell, um von
dem ihr peinlichen Thema abzulenken.
Mrs. Clarke zog die Lippen zusammen. „Muriel
ist mit Geschäften, Versammlungen und Vorträgen
so überhäuft, daß ich sie kaum noch sehe," entgegnete
sie mit absichtlicher Zurückhaltung.
„Morgen möchte ich zu ihr. Darf ich Muriel
zum Essen mit herbringen, Tante?"
Muriel war früher wie Kind im Hause bei Mrs.
Clarke gewesen, so daß die Bitte beinahe überflüssig
erschien.
„Oh, mit Miß Graham möchte ich nicht zusammen-
treffen!" fiel Mabel ein.
Ines sah sich ganz verwirrt um. „Tante Mary,
was soll das heißen? Du hattest Muriel doch so
lieb?"
Mrs. Clarke zählte eifrig die Stiche an ihrer
Stickerei. Erst als Ines ihre Frage mit schmerzlicher
Ungeduld wiederholte, sah sie auf. „Muriel geht
jetzt Wege, die ich nicht billigen kann. Ihr Eifer,
für das Wahlrecht der Frauen zu wirken, treibt sie
über alles Maß und Ziel hinaus. Sie bringt alle
ihre Verwandten und Freunde dadurch in die un-
angenehme Lage, gegen sie Partei nehmen zu
müssen," meinte sie endlich.
„Miß Graham ist eine ganz exzentrische Person.
Sie hält öffentlich Borträge und wohnt in Chad-
well, in dieser ganz verrufenen Gegend," sagte Mabel
mit ihrer spitzen Stimme.
„Inwiefern spricht das gegen Muriel?" fragte
Ines heftig. „Man kann ihren Eifer und ihre Auf-
opferung doch nur bewundern."
„Finden Sie das bewundernswert, wenn Frauen
die Wagenfenster der Minister einwerfen und mit
Regenschirmen auf die Herren einschlagen?"
„Das ist nicht geschehen!"
„Jawohl, das ist geschehen, weil Mr. Asquith
die Vorlage nicht im Parlament einbringt. Muriel
ist eine der leidenschaftlichsten Suffragetten. Näch-
stens wandert sie gewiß noch ins Gefängnis. Lord
Sytton soll außer sich sein," entgegnete Mrs. Clarke.
„Wir, Mabel und ich, wollen in der nächsten Season
mit Ministern und anderen hochgestellten Personen
Verkehren. Da können wir jetzt nicht jemand bei
uns sehen, der öffentliches Ärgernis erregt. Ich
bitte dich, Ines, den Verkehr mit Muriel aufzu-
geben, bis sie wieder zur Vernunft gekommen ist."