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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 54.1919

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Heft 1
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https://doi.org/10.11588/diglit.44086#0027
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Gesundheitslehre


Das künstliche Äuge. Von Justus Oldendorp.
ie augenärztliche Kunst steht auf dem durch Erfahrung
gefestigten Standpunkt, wonach das künstliche Auge als
unerläßliches Hilfsmittel zur Gesunderhaltung der Augen-
höhle angesehen werden mutz, ja es darf geradezu als not-
wendiger Heilfaktor gelten. Demnach empfiehlt sich auch bei
Vollblinden das Tragen von Prothesen aus hygienischen Gründen
und nicht nur, um die abstoßende Wirkung der leeren Augen-
höhlen zu beheben. Welch hohen
Wert für das seelische Empfinden
des am Sehorgan Geschädigten das
bloße Bewußtsein verleiht, daß diese
Verunstaltung nicht von jedermann
zu gewahren ist, bedarf keiner be¬
sonderen Worte. Das ganze Auf¬
treten eines mit einer Prothese ver¬
sehenen Menschen im Verkehr mit
der übrigen Welt vollzieht sich un¬
befangener und sicherer als ohne
diese nicht hoch genug zu schätzende
Kunsthilfe. Doktor Ritterich nannte
es vor über sechzig Jahren geradezu
fehlerhaft, den Gebrauch dieses Hilfs¬
mittels jahrelang aufzuschieben. Das
Vorurteil für den Gebrauch künst¬
licher Augen wird sich für die nächste
Generation bedeutend verringern;
die durch Unwissenheit hervorgerufene Scheu vor Prothesen und
die Furcht vor ärztlichen Eingriffen erhielten durch die Behand-
lung unserer Kriegsbeschädigten eine bedeutsame Berichtigung.
Sichere geschichtliche Überlieferungen über die Herstellung
künstlicher Äugen aus älterer Zeit sind nur wenige bekannt.
Eine genauere Beschreibung gab erst Ambroise Paro in einem
1561 gedruckten Werk Die Kunst, Glasaugen
für den Ersah eines verlorenen Sehorgans zu
machen, scheint einst in Venedig ihren Sih
gehabt zu haben,- lange Zeit galt Paris als die
Stätte der entwickelten Technik. Der deutsche
Augenarzt Ritterich bemühte sich im vorigen
Jahrhundert, um Deutschland, wie er sagt,
„von diesem Tribut an Frankreich zu befreiend
Hazard-Mirault in Paris verlangte um 1850 für
ein Auge fünfundzwanzig bis fünfzig Franken,
Ritterich lernte 1851 die Arbeiten des in Lauscha
bei Saatfeld in Thüringen geborenen Ludwig
Müller kennen, der schon 1835 durch den Würz-
burger Professor Adelmann zur Herstellung
künstlicher Augen angeregt worden war. Über
diese Prothesen urteilte Ritterich 1852: „Seine
Ersahaugen sind denen der besten Pariser Er-
zeugnisse gleichzustellen, in mehrer Beziehung
sogar vorzuziehen." Müllers künstliche Augen
kosteten zweieinhalb bis drei Taler. Dem Neffen
des Genannten, Friedrich Adolf Müller, der sich
seit 1855 betätigte, gelang es gegen Ende der
sechziger Jahre, ein neues bildsames Material
anzuwenden, das dem zerstörenden Einfluß der Tränenflüssigkeit
viel besser widerstand und leichter war als das französische Glas.
Das günstige Vorurteil gegenüber französischen Erzeugnissen ver-
lor sich erst, als durch den Krieg 1870/71 Paris verschlossen blieb,
und die Notwendigkeit gebot, nach der einheimischen Ärbeit zu
greifen. Seit jener Zeit überflügelte das Können deutscher
Künstler die französischen Erzeugnisse immer entschiedener. Die
echt gallische Eitelkeit zeigte sich über diese Erfolge sehr erbittert.
Als auf der Pariser Weltausstellung des Jahres 1900 die Erzeug-
nisse des Wiesbadener Hauses Friedrich und Albert Müller auf
dem internationalen Kongreß der Augenärzte ungeteilte Aner-

kennung fanden, hielt es das Ausstellungspreisgericht für geboten,
diese Erzeugnisse deutschen Könnens mit einer untergeordneten
Bewertung zu bedenken. Als Grund gab man ebenso dünkelhaft
wie gehässig „Imitation französischer Kunst" an! Inzwischen
haben unsere Erzeugnisse die französischen überflügelt, die sich
nicht einmal auf der Höhe von 1850 zu halten vermochten.
Deutschen Bemühungen ist es auch zu danken, daß ein neues
Material, das Kryolithglas, gefunden und verarbeitet werden
konnte, das den Einwirkungen der Alkalien dauernden Wider-
stand zu leisten vermag. Aus blei-
haltiger Komposition verfertigte
Äugen — wie die Pariser — be-
ginnen nach etwa viermonatigem
Gebrauch auf der ganzen Ober-
fläche matt zu werden,- aus gutem
deutschen Material hergestellte erst
nach einjähriger Tragzeit. Das
deutsche Kryolithglas — das die
Kernmasse der Prothese bildet —
wird von der Tränenmasse über-
haupt nie rauhgefressen; nur das
Kristallglas, aus dem die Hornhaut
gebildet werden muß, erleidet eine
oberflächliche Zersetzung; auf dem
Kristall der Iris entstehen blinde
Stellen, welche die Schleimhaut eher
spürt, als sie äußerlich wahrgenom-
men werden. Solange das Auge
glatt ist, wirkt es wohltätig auf die Muskulatur und die Schleim-
haut der Augenhöhle,- erst dann, wenn die Oberfläche rauh zu
werden beginnt, überträgt sich der Reiz auf die ganze Augenhöhle.
Bei fortgesetzter Dauer tritt chronischer Bindehautkatarrh ein, der
sich auf das gesunde Auge überträgt. Aber auch noch weiter-
gehende Schädigungen können die Folge verdorbener Prothesen
sein. Aus diesem Grunde empfiehlt es sich,
keine geringwertigen Erzeugnisse zu erwerben.
Statt der schalenförmig gebildeten Prothesen
gelang es 1899, doppelwandige, völlig geschlos-
sene Kunstaugen herzustellen Bald darauf
wurde es möglich, diese unter dem Namen
„Reformaugen" eingeführten Gebilde in be-
liebigen Formen herzustellen und die Rückwand
je nach den Verhältnissen der Augenhöhle mehr
oder minder konvex, konkav, plan und konkav-
konvex zu gestalten und genau der Beschaffen-
heit des Augenhöhlenbodens anzupassen. Dieses
Kunstauge erlaubt eine größere Bewegungs-
fähigkeit als die bloße Schale,- weil es sich
ganz der Form des noch vorhandenen Aug-
apfels anzupassen vermag, macht es alle Be-
wegungen des gesunden Auges mit.
- Ritterichs Worte sind heute so wahr wie vor
über einem halben Jahrhundert, da er schrieb:
„Die Erlangung eines künstlichen Auges ist für
den Armen oft noch von höherer Wichtigkeit als
für den Wohlhabenden. Wenn es bei diesem
meist dazu dient, das Aussehen zu verbessern,
so ist es bei dem Unbemittelten nicht selten zugleich ein Schutz
gegen Mangel und Elend. Ein Einäugiger wird von niemand
gern in Dienst genommen und ihm nicht leicht ein Geschäft über-
geben, zu dessen Ausführung ein nur irgend gutes Gesicht gehört,
obgleich dasselbe recht wohl mit einem Auge zu verrichten wäre.
Trägt er aber ein künstliches Auge, hat er also anscheinend zwei
gesunde Augen, so findet er weit leichter Unterkommen und Brot."
Für die im Kriege um das Augenlicht gekommenen Kämpfer
geschieht alles; sie erhalten selbstverständlich auch Prothesen. Eine
hochentwickelte Kunstfertigkeit traf mit den Kriegsereignissen
zusammen, um das Menschenmögliche erreichbar zu machen.



Einsetzen des fertigen künstlichen Auges.

Ein Patient mit gut passendem
künstlichem Auge.
 
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