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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 54.1919

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Heft 22
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https://doi.org/10.11588/diglit.44086#0428
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Heft 22

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stehende davon waren von Hellem, durchsichtigem Gelb und er-
laubten klaren Durchblick, während die anderen, dunkler ge-
färbten Teile eine dahinter stehende Person zur Genüge ver-
bargen, um ihre Umrisse von außen nicht wahrnehmbar werden
zu lassen. Rosenbauer musste sich bücken, um durch eines der
gelben Gläser sehen zu können,- das Bild Pilars, die bald darauf
in das Eßzimmer trat, war, abgesehen von der wärmeren Fär-
bung, klar. Als sie an dem Platz vor dem Samowar stand, war
sie in der vollen Beleuchtung durch das gegenüberliegende breite
Fenster so deutlich zu sehen wie in einem Spiegel.
Sie brühte die Teekanne mit kochendem Wasser aus, gab
den Tee hinein und ließ das heiße Wasser aus dem Samowar
darüberlaufen. Rosenbauer betrachtete ihr zweifellos schönes
Gesicht, und er gewahrte einen Unterschied von dem, das sie

Nachdem sie sich überzeugt zu haben schien, daß niemand sich
nahte, nahm sie den Gegenstand in ihre rechte Hand, und Rosen-
bauer sah nun, daß es ein kleines Fläschchen war, das etwa
zehn Gramm Flüssigkeit fassen konnte. Sie entkorkte es und goß
seinen Inhalt in die mittlere der vor dem Samowar zum Ein-
schenken bereitstehenden Teetassen,- dann drückte sie den Pfropf
schnell in den Hals des Fläschchens, verbarg es wieder in den
Falten ihrer Bluse und goß darauf den Tee aus der Kanne
in die Tassen. Nachdem sie die Kanne zur Seite gestellt, stand
sie einige Augenblicke wie unschlüssig da und verließ dann das
Eßzimmer.
Rosenbauer, der in seinen Bewegungen sehr bedächtig war,
konnte, wenn es darauf ankam, flink wie ein Wiesel sein und
bewies das fetzt. Kaum hatte die Tür sich hinter Pilar ge-

In höchster Not.


in Gesellschaft zeigte. Zunächst fand er nicht ohne Überraschung,
daß sie viel älter aussah als sonst, woran die festgeschlossene
Linie der schmalen, roten Lippen Schuld tragen mochte; es waren
in diesem unbewachten Eesichtsausdruck Züge, die auf ein be-
wegteres Leben Schlüsse zuließen, als man bei ihrer Jugend
voraussetzen durfte. Und dann war der Ausdruck im Gegensatz
zu dem gewohnten der harmlosen Heiterkeit und lächelnden
Sorglosigkeit oder gelegentlichen mürrischen Schmollens nicht
nur ernst, sondern geradezu finster und der einer unbeugsamen
Entschlossenheit, die in schroffem Gegensatz zu dem stand, den
die süß oder bezaubernd lächelnde Pilar des Alltags bot.
Von dieser Beobachtung wurde Rosenbauer durch das sonder-
bare Tun der kleinen, wohlgepflegten Hände abgelenkt, denn
nachdem die Rechte die aufgefüllte Kanne zum „Ziehen" des
Tees an Stelle des abnehmbaren Schornsteins oder Zugrohres
des Samowars, das dazu dient, die im Innern befindlichen
Holzkohlen in Glut zu erhalten, auf den korbartigen Aufsatz des
Kessels gestellt, zog die Linke, wobei Pilar anscheinend lauschend
den Hals etwas zurückbog, einen Gegenstand aus den bauschigen
Falten ihrer Bluse, den Rosenbauer nicht zu erkennen vermochte.

schlossen, da eilte er auch schon hinaus, ergriff die mittlere Tee-
tasse, eilte damit in das Kämmerchen zurück, leerte ihren In-
halt in das erste beste leere Glas, das er erwischte, und schob es
in eine dunkle Ecke. Dann ging er rasch mit der Tasse an den
Tisch zurück, spülte sie erst mit heißem Wasser aus und füllte
sie mit frischem Tee aus der Kaune. Mit ein paar flinken Schritten
lief er ans offene Fenster und setzte sich auf einen der davor
stehenden Stühle.
Kaum war dies geschehen, als auch Pilar zurückkehrte und
beim Anblick Rosenbauers überrascht stehen blieb.
„Oh, Sie sein schon da?"
„Wie Sie sehen," erwiderte er scheinbar harmlos. „Ich
wartete draußen auf dem Söller auf den Tee. Ich habe Durst."
„Ich haben ihr auch," versicherte Pilar, zum Tisch tretend.
„Ich wissen nicht, warum Herberts nicht kommen!"
„Wahrscheinlich ist er eingeschlafen; er wollte vor dem Tee
noch etwas ruhen. Ich sehe, Sie haben den Tee schon ein-
geschenkt — hoffentlich wird er nicht kalt, bis Ihr Onkel kommt."
„Oh, das tun nichts. Onkel Herberts lieben ihn nicht,
wenn sein zu heiß."
 
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