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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 61.1929

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Heft 7
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https://doi.org/10.11588/diglit.52835#0178
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„Die Geschichte ist zu lang, liebes Fräulein, um Sie da-
mit zu langweilen. Auch eignet sie sich nicht für einen Engel
mit schneeweißen Flügeln, der zu sein Ihr Ehrgeiz erstrebt."
Erzürnt nahm Annie den Krug vom Boden auf und
wandte sich zum Gehen. Mit dem Sträußchenpflücken war
es nichts an diesen: Ort, der so paradiesisch erschien und an
den: böse Tiere und böse Menschen ihr Wesen trieben.
Martin sah ihr nach. Der Anblick des glashellen Wassers
in ihrer Hand verzehnfachte die Qual seines Durstes.
Eigentlich hatte er sie ziehen lassen wollen, sie, die ver-
langt hatte, daß er sie nicht kennen solle. Aber Durst und
Erschöpfung brachen seinen trotzigen Willen.
„Fräulein Melber —"
„Was wünschen Sie von mir?"
„Lassen Sie mich einen Schluck aus Ihrem Wassergefäß
trinken! Einen einzigen! — Ich komme um vor Durst —
und hier in der Nähe ist keine Quelle."
„Wenn Sie so durstig sind," erwiderte sie verwundert,
„warum gehen Sie dann nicht in den Wirtsgarten und
lassen sich eine Tasse Kaffee geben?"
„Um Kaffee trinken zu können, braucht man Geld, ver-
ehrtes Fräulein, — und ich hab' keins."
„Oh, wenn es nur das ist —" Annies Hand griff in die
Tasche, aber die Hand blieb auf halbem Wege stecken vor
dem Blick seiner Augen, dem Ton seiner Stimme.

hin und her gerissen von widerstreitenden Empfindungen,
und eine mächtige Sehnsucht stieg auf in seinem Herzen,
begann zu glühen in seinen Augen. Mit ihrem weißen
Sonntagskleidchen und dem stillen, unschuldigen Gesicht
unter den dunkelbraunen Flechten erschien sie ihm wirklich
wie ein aus einer besseren Welt herabgestiegener Engel,
der zu seinem Erdenwallen nur die Flügel abgestreift
hatte, — wie ein Schutzengel, irrenden, ringenden Men-
schen zum Führer gesandt. An der Hand eines solchen
Wesens durch das Leben zu gehen, müßte wohl ein Glück
über die Maßen sein, meinte er, der von weiblichen Ge-
schöpfen nur seine Mutter und seine Schwestern kennen-
gelernt hatte und was zu diesen gehörte. Unwillkürlich trat
er einen Schritt näher.
„Fräulein —"
Seine Stimme klang so sanft jetzt. Sie drang Annie ins
Herz.
„Ja?
Er rang nach Worten. Aber nur seine Augen fanden
Sprache.
„Kann ich etwas für Sie tun?" fragte sie schüchtern.
„— Wenn Sie an mich glauben könnten!" Es war wie
ein Aufschrei.
„Glauben? — Wie meinen Sie?"
„Glauben, glauben eben — trotz allem glauben! — Man

„Unterstehen Sie sich! — Ich bin kein Bettler, Fräulein
Melber, — noch nicht. Ich werd' auch keiner, — eher
dürften mir mit der Zeit Giftzähne wachsen wie der

weiß von Ertrinkenden, halb schon im Meer Versunkenen,
die der Anblick eines fernen Bootes gerettet hat, der An- I
blick einer Blume nur, die auf den Wellen trieb, oder der r




Zn Weihnachtstimmung.

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Schrei eines Vogels, die als Bürgschaft nahen Landes ihre
erlahmende Kraft aufpeitschten zur äußersten Anstrengung.
So einer bin ich. Schon einmal wollte ich mich gleiten
lassen, mich wegstehlen aus dem Leben. Aber das ist nicht
das rechte. Ich hab' den Tod nicht verdient. Jeder Wurm,
jeder Baum hat das Recht zu

leben, ich hab's auch, ich
will's mir nicht nehmen
lassen. — Es gibt noch
eine andere Art des Ver-
sinkens — Sie könnten
mich davor bewahren —
Sie! wenn Sie an mich
glauben wollten."
„Wie kann ich das, Herr
Lenz? Ich kenne Sie ja
kaum, weiß nichts von
Ihnen als Ihre schlim-
men Reden."
Er war ganz nahe ge-
treten, er faßte ihre Hand.
„ V ersuch en Sie's troh-
dem! -— Ich bin nicht
schlecht, wahrhaftig nicht
— noch nicht —"
Sie schwieg, hätte sich
lösen mögen von ihm in
dunkler Angst und fand
nicht den Mut. Solch
heißes Flehen war in sei-
nemBlick, seinerStimme,
daß es sie rührte, aber
wie hätte sie versprechen
können, zu glauben an
diesen Menschen, der ihr
unverständlich war wie
kein anderer, vor dem sie
sich fürchtete wie vor kei-
nem anderen? — Noch
immer hielt er ihre Hand.
DaschreckteihrerStief-
mutter Stimme sie auf-

Schlange, die Sie verabscheuen."
„Verzeihen Sie," stammelte Annie, und willenlos, be-
siegt bot sie ihm das Gefäß dar.
„Danke!"
Er trank in langen Zügen, dann gab er's zurück.
„Nun denken Sie: Warum geht der zuwidreMensch nicht
in die Wirtsküche und
löscht dort seinen Durst?
Aber wo ich nichts ver-
zehre, mag ich auch nicht
um Wasser betteln. När-
risch, nicht wahr? — Ja,
auch Lump en hab en ihren
Stolz — oder ihren
Eigensinn. Es kommt auf
eins heraus."
Annie Hütte nun gehen
können. — Nichts und
niemand hielt sie. — Und
stand doch noch, als müsse
sie warten, sie wußte
nicht auf was. Das Herz
tat ihr weh, sooft sie die-
sen Menschen sah und
seine schlimmen Reden
hörte. Wenn man ihm
doch helfen, ihn „gut
machen", ihn: das Ver-
trauen zu seinen Mit-
menschen und die Freude
am Leben wiedergeben
könnte! Ihr Vater fiel
ihr ein. Der hatte in sei-
ner stillen Art schon
manchem geholfen. Aber
würde er dem helfen kön-
nen? Würde er den wun-
derlichen Menschen nur
verstehen?
Er aber schaute sie an,
wie sie zögernd stand,

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