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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 61.1929

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Heft 18
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https://doi.org/10.11588/diglit.52835#0473
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Heft >8

D a s B u ch

m dann plötzlich Wahrheit imd tiefe Weisheit wie Goldkörner aufleuchten,
siebtes Erlauschtes und Erlogenes wird aufgetischt, und die Phantasie
nd de/Schalk des Erzählers haben die Zuhörer vergnüglich zum besten,
dröhnendes Lachen, zuweilen auch ein derber Schlag dem Lügenpeter
Mittleren für das Gegebene. Deutsch ist freilich auch die Untugend der
^iimmergesellen, das unbändige Gefallen am Trunk in der Runde. Da
kennen sie kein Matz, und Temperenzler richten nichts aus. Gar bald ist
dann auch die Rauferei im Gang, und es kracht von Schlägen und zer-
scklaaenen Stühlen. Leider sitzt gar manchem auch das Messer zu locker.
Kewitz, viel rohes, ungefüges Wesen haben die Leute an sich, die ja auch
in ihrem Beruf mit der Art schwere, harte, oft auch gefährliche Arbeit auf

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den Gerüsten tun. Aber sie haben auch ein ehrliches Herz unter ihren
weitzen Hemdlatzen. Das ist doch in unserer, nur aufs Erraffen ein-
gestellten und von jedem windigen, modischen Geprahle eingefangenen Zeit
etwas von reellem, gutem und sozialem Wert, datz das Starke und Tüch-
tige, das Gesunde und Aufrichtige, Ehrbarkeit und brüderliche Gesinnung,
die Arbeit um ihrer selbst willen geliebt und hochgeachtet werden, so wie
es schlicht in einem der Lieder der Zimmergesellen ausgesprochen ist:

Und reiche stets in Stadt und Land
In Mitgefühl die Bruderhand.
Wer in den Nöten sich befindet,

Bedenkt, was wir ihm schuldig sind!
Ein jeder tut, soviel er kann,
Das ist die wahre Tugendbahn.


vo^ Wsmss-
^VZrigitte sah wieder vergangene Bilder ihres Schicksals. Sie
><)zogen vorüber im alten Glanz und doch seltsam verblatzt.
Dies also war ihre Jugend, die lautlos in den Abgrund ver-
schollener Jahre hinabgetaucht war.
Sie lehnte müde geworden den Kopf an das Polster. Lohnt
es sich zu leben, wenn an keinen kommenden Tag sich Hoff-
nungen knüpfen, die neues, reizvolles Erlebnis verhetzen?
Vor dem Abteilfenster eilte die Landschaft hinweg unter
der blassen Klarheit des Herbsthimmels. Warme Dämmerung
fiel wie goldener Rauch.
Der Zug dröhnte über Weichen, Gärten verschwammen bei-
derseits im dunkelnden Abenddunst. Schwärzlich stieg wie ein
Scherenschnitt vor hellerem Untergrund das Bild der alten
Stadt mit Giebeln und Türmen aus der verfließenden Ebene auf.
Brigitte warf einen prüfenden Blick in den Wandspiegel,
nahm Koffer und Mantel. Dann hielt der Zug. Sie war am
Bestimmungsort angelangt. —
Der Geheimrat stand auf der Haustreppe, um Brigitte zu
empfangen. Das Licht einer altertümlichen Laterne fiel über
sein weitzes Haar. Die Artigkeit ihres unbekannten Gastgebers,
sein ehrfurchtgebietender Altmännerkopf, die geschwungene
Treppe und die weißlackierten Türen im Hausinnern, die Öl-
bilder und blanken Kerzenhalter an den dunkeln Wänden, dies
alles drang wie aus einem Gemälde von Anno dazumal auf
Brigitte ein. Schwermütige Sitze und seltsamen Glanz wob
das fremde Haus um ihr Herz. Ihr war, als müsse ihre Ju-
gend aufstehen und auf leichten Kindersitzen über Flure und


durch Zimmer schreiten, mit lächelndem Mund und unberührter Stirn.
Beim Nachtmahl sprach der Geheimrat über das Konzert, das Brigitte
am nächsten Abend geben würde. Hernach gingen sie hinüber in den Musik-
raum, der elfenbeinfarben und goldglänzend im Deckenlicht erstrahlte. Bri-
gittes Stimme scholl weich und verhalten durch die Stille,- der alte Herr
aber im Armstuhl satz regungslos, bis die letzten Töne verhallt waren.
Er sprach nicht viel, aber die Sängerin fühlte im Händedruck beim Gute-
nachtsagen, datz ihre Kunst noch machtvoll wie ehemals war. Dieses Ge-
fühl umgab sie noch wie ein Mantel des Glücks, als sie sich in ihrem Zimmer
entkleidete. Sie nutzte, das morgige Konzert würde Erfolg bedeuten.
Melodischer Klang der Domturmuhr fiel feierlich durch diese Nacht ab-
seits der großen Stadt. Aus dem Dunkeln rauschte unendlicher Laut des
Marktbrunnens, ruhevoll und tröstend wie ein ferntönender Psalter...
Als Brigitte neben den Flügel trat und über die erwartungsvoll er-
hobenen Gesichter hinsah, erblickte sie in der zweiten Reihe einen Männer-
kopf. Sie fühlte, wie eine Welle von leidenschaftlicher Ergriffenheit über
ihr Herz hinwegzog, tiefe Trauer und zugleich vollkommene Freude.
Sie sang, und Beifall klang hinauf zu ihr. Sie sang abermals, sich
eins fühlend mit den Frauengestalten der Liebeslieder. Ihre Seele jubelte
und schluchzte, und der Mann vor ihr lauschte mit geschlossenen Augen.
Jahre versanken. Er deckte die Hand über die Stirn. Sein ganzes Wesen
erfüllte die unbegreifliche Wirklichkeit des Wiedersehens. Er war wieder
jung, und Brigitte schritt neben ihm unter dem Schnee der Baumblüte,
ihr Antlitz bog sich ihm entgegen, unvergeßlich und schön vor dem Hinter-
grund silberblauer Wälder. Dies war das unvergängliche Bild, Jugend
und zugleich Heimat, dem er schrankenlos hingegeben war in den Jahren
der Einsamkeit auf den Meeren der Fremde . . .
Eine lange Stille trat ein. Dann aber scholl Beifall auf, Rufe und von

neuem nicht endenwollender Beifall. Brigitte preßte mit beiden Händen
die leuchtenden Herbstblumen an ihr Herz; der Glanz ihrer Augen stand
schön über den Zuhörern. Und durch die weite Helle des Saales floß
wiederum ihre Stimme wie ein golddunkler Strom; sie sang die unsterb-
lichen Verse Goethes vom König in Thule — —
Adrian aber wußte, daß sie jetzt nur für ihn sang. Sie beide begriffen
es, aus dem großen Gefühl ihrer fernen Jugend heraus, die allgegen-
wärtig geworden war. —
Der Geheimrat hatte gebeten, mit Brigitte bis zur Abfahrt des Nacht-
schnellzuges, den sie zur Weiterreise benutzen mußte, Zusammensein zu
dürfen. Brigitte hatte gern eingewilligt. Adrian, der sie nach dem Konzert
im Künstlerzimmer begrüßt hatte, schloß sich an. So saßen sie zu dritt
im Königshof an einem kleinen Tisch, über dessen weißes Tuch gedämpfter
Schein der Stehlampe fiel.
Die Sängerin war befangen, denn der Abschied nahte von Minute zu
Minute. Adrian erzählte aus seinem Leben, und seine Stimme schwang
wie Cellolaut, jene Stimme, die sie einst so geliebt hatte und noch liebte!
Und immer suchten Adrians offene Augen verheißend in den ihren,
deren Tiefen vom Glück umdunkelt waren.
Der Geheimrat sprach Dank und Huldigung, die Gläser klangen anein-
ander, dann war es Zeit zum Aufbruch. Als Brigitte die Treppe hinab
zum Wagen schritt, dessen Scheinwerfer zwei weiße Kegel aus der schwarzen
Nacht schnitten, war in ihr der Brunnen der Jugend aufgebrochen ... hier
war das Wunder ... die große Wende zu neuem Leben ...
„Ich werde kommen," leise sprach es Adrian, als der Wagen ins Dunkle
verschwand. Er begriff mit Inbrunst die Macht, welche vergangene Jahre
auslöschte und ihrer beider Jugend heraufhob in eine Gegenwart, die
schön und glanzvoll auf ihr Kommen wartete.
 
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