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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 62.1930

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Heft 4
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https://doi.org/10.11588/diglit.52836#0099
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Heft 4 Das B u cl)
schien Frau Ashley, mit unbeweglichem, blassem Gesicht. Frederick
Blaisdell wandte fast kein Auge von ihr.
Endlich erschien der Detektiv oben auf der Treppe; während
er herunterkam, antwortete er auf Nobins ungeduldige Frage:
„Zwischen drei und vier heute früh ist es geschehen."
Er faßte Frau Ashley scharf ins Auge.
„Der Arzt meint, vielleicht könne der Tod auch ein wenig
früher eingetreten sein. Die Mordwaffe ist nicht entdeckt worden."
Frau Ashley gab ihm seinen Blick mit unbewegtem Gesicht zurück.
„Und der Täter — haben Sie irgendwelche Spuren?" fragte
Nobin hastig.
„Es sind mancherlei Spuren vorhanden; in welche Richtung
sie weisen, ist im Augenblick noch ungewiß."
Einzelheiten anzugeben, lehnte Franklin Porke höflich ab.
Dann bat er um einen guten photographischen Apparat, um vor
Eintreffen der Polizei einige Aufnahmen zu machen. Robin stellte
ihm seine Kamera zur Verfügung.
„Ich komme mit", sagte der Detektiv und folgte Robin, der
ihn zu der Dunkelkammer führte, die in dem Geräteschuppen
eingebaut war.
„Ihnen möchte ich noch einige Einzelheiten sagen, die ich nicht
gern vor allen andern geoffenbart hätte", sagte Porte zu Robin.
„Ein scharfes kleines Küchenmesser ist bei der Toten gefunden
worden, mit Blut überzogen, aber offenbar nicht die Mordwaffe.
Die Untersuchung des Arztes hat ergeben, daß ein längeres
dünneres Messer mit sehr biegsamer Klinge zur Tat gedient haben
muß."
Nobin schloß die Dunkelkammer auf; kaum war er eingetreten,
rief er: „Da ist jemand an meinen Chemikalien gewesen!"
„Ja, ich", bestätigte der Detektiv. „Ich brauchte ein besonders
empfindliches Papier, um einen Abdruck zu machen, und hier
fand ich alles, um mir das Papier zu präparieren."
„Schön, Herr Porke. Hier ist mein Kodak; die Bildgröße sehen
Sie!"
Er ließ das kleine Bild fallen, das er vom Tisch ausgenommen
hatte, und ging unruhig ans Fenster. Porke nahm das Bild in
die Hand. Es war ein Damenbildnis, in dem er sofort Frau
Van Renselaer erkannte. Ein Schleier schien über ihren Augen
zu liegen und das Lächeln, das die Lippen zeigten, Lügen zu
strafen. Der Detektiv betrachtete auch den Kopf des Hundes genau,
der in der einen Ecke sichtbar war; dann schob er das Bild in
seine Rocktasche.
„Der Apparat genügt vollauf", sagte er. „Darf ich Sie bitten,
ihn mir aufnahmefertig zu machen? Der Untersuchungsrichter
wird nicht lange mehr auf sich warten lassen."
Robin verließ seinen Platz am Fenster, suchte eine Packung
Filme und setzte sich an den Tisch. Mit gespannter Aufmerksam-
keit sah Franklin Porke den folgenden Hantierungen zu. Nach-
dem Robin ihm den Apparat übergeben, sagte er unter der Tür
so beiläufig: „Sie sind Linkser, nicht wahr?"
„Ja, aber nicht in allem. Tennis, Golf, Baseball und so was.
Sehen Sie, wie die Dienstboten sich an die Küchentür drängen.
Wollen wir es ihnen nicht jetzt sagen? Sie glauben, ihre Herrin
sei krank."
„Noch nicht. Vorher möchte ich einige Verhöre mit ihnen an-
stellen."
„Jetzt gleich?"
„Nein. Zuerst muß ich mit Frau Ashley unter vier Augen
sprechen. Würden Sie sie für einen Augenblick zu mir heraus
bitten?"
In einer kleinen Laube am Waldrand fand Madge den Detektiv
einige Minuten später. Er war damit beschäftigt, einen kleinen
Gegenstand in seiner Hand zu betrachten, den er bei ihrer An-
näherung in die Tasche schob. Dann erhob er sich.
„Frau Ashley," sagte er, „ich bitte Sie um die Beantwortung
einiger Fragen."
Ein schmerzliches Lächeln glitt um ihre Lippen, das um Scho-
nung zu bitten schien.
4.1930

für Vlke y
„Ich will es so kurz wie möglich machen", sagte er mitleid-
voll. „Sie waren seit langem mit Frau Van Renselaer be-
freundet?"
„Seit unserer Kindheit ohne längere Unterbrechung."
Madges Augen füllten sich mit Tränen.
„Wer war Frau Van Renselaer — vor ihrer Verheiratung?"
„Viktoria Hildreth Bigelow. Ihr Vater war Pfarrer von Sankt
Johann. Er war äußerst beliebt und Sankt Johann eine der
berühmtesten Kirchen in ganz Neuengland. Er hat sie dazu ge-
macht."
„Und seine Frau?"
„Mary Hildreth, von einer alten Neuyorker Familie. Eine ent-
zückende Frau. Sie starb, als Viktoria fünfzehn war — bei einem
Eisenbahnunfall. Zwei Jahre darauf starb auch ihr Vater. Wäh-
rend der Osterpredigt fiel er tot auf seiner Kanzel um.
„Wo lebten die Bigelows?"
„In Brookmede bei Boston. Die ältesten Bostoner Familien
leben hier in einer aristokratischen Kolonie."
„Haben Sie dort Frau Van Renselaer kennengelernt?"
»Ja. Ich bin dort geboren und aufgewachsen. Ich bin sieben
Jahre älter als Viktoria — sechsunddreißig. Unsere Wohnungen
lagen nahe beieinander."
„Und Ihr eigener Mädchenname?"
„Frothingham. Mein Vater Stanhope war Rechtsanwalt in
Boston."
„Hat Frau Van Renselaer ihre ganze Mädchenzeit in Brook-
mede verlebt?"
„Wir waren beide zusammen drei Jahre auf einer auswärtigen
Schule. Nach ihrer Mutter Tod war sie zweimal in Europa, mit
einem Fräulein Broditch, einer entfernten Verwandten ihres
Vaters. Sie war viel bei Verwandten auf Besuch; bei einer
solchen Gelegenheit lernte sie Dysart in Neuyork kennen, bei einer
Tante ihrer Mutter."
„Wann war das?"
„Vor acht Jahren — ein Jahr vor ihrer Verheiratung."
„Haben sie nie Kinder gehabt?"
„Nein."
„Sie selbst war einziges Kind?"
»Ja- Ihre Eltern waren zwölf Jahre verheiratet, als sie zur
Welt kam."
„Ist Ihnen irgend etwas bekannt von Feinden, die Frau Van
Renselaer wissentlich oder unwissentlich hatte, oder von irgend
einem ungewöhnlichen oder folgenschweren Ereignis in ihrem
Leben?"
Bisher hatte Porke alle seine Fragen mit einer gewissen Un-
interessiertheit gestellt. Nun aber beugte er sich vor, seine Augen
schienen stählern, sein ganzer Körper Energie und Erwartung.
„Nichts von alledem. Sie hatte nicht einen Feind. Ihr Leben
lag offen da. Sie war eine so heitere, sonnige Natur, daß sie
nichts nachtragen konnte — nicht eine Stunde — und ebenso
wenig Hütte sie ein Geheimnis, in das sie verstrickt war, stumm
mit sich Herumtragen können."
„Wissen Sie irgend wen, für den ihr Tod einen Vorteil be-
deuten könnte? Bitte, besinnen Sie sich recht genau, ehe Sie
antworten."
Madge überlegte. Dann sagte sie zögernd: „Es ist schrecklich,
auf jemand einen Verdacht zu werfen, der sicher völlig unschuldig
ist, ja in diesem Augenblick noch gar nicht weiß, was hier ge-
schehen ist!"
„Verehrte Frau Ashley, Sie beschuldigen niemand mit Ihrer
Aussage; Sie geben mir lediglich Tatsachen bekannt, die es mir
ermöglichen, den Kreis derer, die für die Tat verantwortlich sein
könnten, zu verengen. Sie kennen jemand, der aus Frau Van
Renselaers Tod Nutzen zieht — bitte, wer ist das?"
Madge warf ihm einen beinahe flehentlichen Blick zu, sah dann
rasch zu Boden, und nach einem kurzen Augenblick des Schwei-
gens sagte sie mit leiser, bewegter Stimme: „Paul Hildreth."
(Fortsetzung folgt)
 
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