Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste (4.1758/1759)

592 Schreiben des Herrn S. Löwen
scyri, als das Angenehme in dem Bau eines wohlge-
wachsenen Menschen zu empfinden; aber zu sehen,
worin» der Umriß eines Körpers, wie er in der Na-
tur ist, fehlerhaft sey, wenn man ihn gegen den Um-
riß eines Laokoon oder Antinous hält, dazu wird
ein eben so feiner Kenner erfordert, als zu bestimmen,
worinn der Umriß eines Raphaels dem Umrisse ei-
nes Rubens vorzuziehen sey. Es ist also eine eben
so würdige Beschäftigung der Kritik, feine Fehler zu
entdecken, als feine Schönheiten zu entwickeln. Bey-
des ist ihr Werk, und beydes ist auf das genaueste
mit einander verbunden; verabsäumet sie das eine oder
das andere,so artet sie entweder in eine niedrige Schmei-
chele», oder in eine ungezähmte Tadelsucht aus.
XI.
Des Herrn S. Löwen Schreiben an die
Verfasser.
Meine Herren!
bin Ihnen für die Aufmerksamkeit verbunden,
mit der Sie mein Gedicht der Btllwerder zu
beurtheilen die Güte gehabt haben, und ich ersuche
Sie, die gegenwärtige Zuschrift als eine Versicherung
anzunehmen, daß ich bey meinen künftigen Versu-
chen alles anwenden werde, Ihren völligen Beyfall
zu erhalten. Wenn die Eigenliebe der meisten
Schriftsteller mein Fehler wäre, so würde ich über
verschiedene Anmerkungen in Hitze gerathen; allein
ich verehre die Kritik zu sehr, und eine so mühsame,
einsichts-