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Die Legende der dritten Taube.

Don

Stefan Zwcig.

s^n dcm Buche vom Anfanq der Zeit ist dle Geschichte
-v) der ersten Taube erzählt und die der zweiten, die
Urvater Noah aus der Arche um Botschaft sandtc, ais die
Schieusen des Himmels sich schlossen und die Gcwässer
der Tiefe versiegten, doch die Reise und das Schicksal
der dritten Taube, wer hat sie gekündet? Auf dem Sipfel
des Berges Ararat war das rettende Schiff gestrandet,
das in seinem Schoß das Uberleben der Sintflut barg,
Menschheit und Getier, und als des Urvaters Blick vom
Maste nur Woge und Welle sah, unendliches Gewässer,
da sandte er eine Taube, die erste, aus, daß sie ihm Bot-
schaft brächte, ob irgendwo schon Land zu jchauen sei
unter dem entwölkten Himmel.

Die erste Taube, so ist dort erzählt, hob sich auf und
spannte die Schwingen. Sie flog gen Osten und gen
Westen, aber Wasscr war noch übcrall. Nirgends fand
sie Rast für ihren §uß und allmählich begannen ihr die
Alügel zu lahmen. Da kehrte sie zurück zum einzig Festen
der Welt, zur Arche, und flatterte um das ruhende Schiff
auf dem Berggipfel, bis Noah die Hand ausstreckte und
sie heim zu sich in die Arche nahm.

SiebenTagewartete er nun,siebenTage,in denen kein
Negen fiel und die Gewässer sanken, bann nahm er
neuerlich eine Taube, die zweite, und sandte sie um Kunde.
Die Taubc flog aus des Morgens, und als sie wiederkam
zur Vesperzeit, da trug sie als erstes Zeichen der befreiten
Erde ein Olblatt im Schnabel. So vernahm Noah, daß
die Wipfel der Bäume schon über Wasser ragten und
die Prüfung bestanden sei.

Nach abermals sieben Tagen sandte er wiederum eine
Taube, die dritte, auf Kunde und sie flog in die Welt.
Morgens flog sie aus und kebrte doch des Abends nicht,
Tag um Tag harrte Noah, doch sie kam nicht zurück. Da
wußte der Urvater, daß die Ecde frei sei und die Wasser

gesunken. Von der Taube aber, der dritten, hat er niemals
wieder vernommen und auch die Menschheit nicht, ni«
ward ihre Legende gekündet bis in unsere Tage.

Dies aber war der dritten Taube Reise und Seschick.
Des Morgens war sie von der dumpfen Kammer dss
Schiffes aufgeflogen, darin im Dunkel die gepreßten
Tiere murrten vor Ungeduld, und ein Gedränge war
von Hufen und Klauen, ein wüstes Getön von Brüllen
und Pfeifen und Zischen und Bellen, sie war aufgeflogen
aus der Enge in die unendliche Weite, aus dem Dunkel
in das Licht. Da sie aber die Schwinge nun hob in di«
lichtklare.vomRegensüßgewürzteLuft, wogte mit einem
Male Freiheit um sie unb die Gnade des Unbegrenzten.
Don der Tiefe schimmcrten die Wasser, wie feuchte»
Moos leuchteten grün die Wälder, von den Wiesen stieg
weih der Bcodem der Frühe und das duftende Gären
der Pflanzen durchsüßte die Wiesen. Glanz fiel von den
metallenen Himmeln spiegelnd herab, an den Zinnen
der Berge brach die stcigende Sonne sich in unendlichen
Morgenröten, wie rotes Blut schimmerte davon das
Meer, wie heihes Blut dampfte davon die blühende
Erde. Göttlich war es, dies Ecwachen zu schauen und
seligenBlicks wiegte dieTaubesich mit flachenSchwingen
über der purpurnen Welt, über Länder und Meere flog
sie dahin und ward im Träumen allmählig selber ein
schwingender Traum. Wie Gott selbst sah sie als erste
nun die befreite Erde und ihres Schauens ward kein
Ende. Längst haite sie Noah, den Wcißbart der Arche,
vergessen und seinen Auftrag, längst vergessen der
Wiederkehr. Denn dies, die Welt, war ihr nun Hsimat
geworden und der Himmcl ihr eigcnstes Haus.

So flog die driite Taube, der ungetreue Bote des Ur-
vaters, über die leere Welt, weiter, immcr weiter, vom
Sturin ihres Glückes getragen, vom Wind ihrer seligen

Beüage zum „Bildermann", I. Iahrg., Nr. 17.
 
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