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Kreis Naumburg.
übergangen, welcher kleinere, dichtere Vertiefungen hinterlassen hat. Brust,
Kopf und rechte Hand Christi und Maria ganz haben schon den dritten Zustand
erreicht; sie sind mit dem Breitmeißel geglättet, in allen Details fein aus-
gearbeitet und geschliffen. Die einzelnen Schläge des Breitmeißels ohne Schliff
kann man an der linken Hand Christi, der Mantelfalte vor der Bank und dem
Zipfel unter der Hand Marias beobachten. Die Augensterne sind schon bei allen
drei Figuren mit Schwarz bezeichnet, auch bei Johannes auf der groben Stockung.
Dies Hilfsmittel wandte der Künstler offenbar an, um gleich von vornherein die
Sehlinien, die Stellung und Richtung der Augen festzulegen und die Komposition
zu binden.
Wirkliche Überraschung bereitet aber nun die Beobachtung, daß am Kopfe
Christi und sonst vereinzelt kleine Bohrungen auftreten, ganz deutlich auf der
Stirnlocke, an den Wangen, mitten zwischen den Lippen, auf den Locken des
Johannes. Es sind dies die Lehrpunkte, welche entstehen, wenn ein Modell mit
dem Kugelzirkel auf den vorgearbeiteten Stein abpunktiert wird, um die genauen
Verhältnisse und die Höhen- und Tiefenlagen der einzelnen Glieder und Flächen
festzulegen. Daß die mittelalterlichen Künstler etwa seit dem 12. Jahrhundert
nicht mehr nach Zeichnungen oder aus freier Hand, sondern nach besonders
entworfenen Tonmodellen gearbeitet habeni ist schon immer gemutmaßt worden.
Hier haben wir durch eine seltene Fügung den evidenten Beweis dafür, ein
kleines Lehrstück der Bildhauerkunst, an dem wir den Entwurf, die stückweise
Vollendung und den Gebrauch aller nötigen Instrumente beobachten können.
Es sind dieselben, die bis vor kurzem der gewöhnliche Steinbildhauer noch
benutzte. Man kann schließen, daß der Meister auch seine übrigen Bildwerke
nach dieser Methode geschaffen hat. Daher die große Sicherheit und Bestimmt-
heit seiner Formen. Die Studien, Entwürfe und Verbesserungen waren mit der
Vollendung des Modells abgeschlossen. Und dieses selbst wird er am lebenden
Menschen entworfen haben, bei den großen Figuren vielleicht in natürlicher
Größe. Denn hätte er eine Gliederpuppe benutzt, so würde sich die wunder-
bare Beweglichkeit seiner Körper und die Bildnistreue seiner Köpfe nicht erklären.
Wie bemerkt, steht das Stück im Verband einer Tür des Ostchors, dicht
neben der romanischen Wandsäule und es ist hier am Ort nach der Versetzung
weiter bearbeitet. Es geht daraus hervor, daß der Ostchor unmittelbar nach
Vollendung des Westchores begonnen wurde und zur Zeit, als der Plastiker den
Bildschmuck jenes vollendet hatte und für den Ostchor frei wurde, schon bis zu
dieser Höhe gediehen war. Trat der Künstler um 1250 (vielleicht noch früher)
in die hiesige Arbeit ein und widmete den großen Werken rund 30 Jahre, so
konnte er um 1280 das kleine Werk beginnen, welches ein unschätzbares Doku-
ment zur Baugeschichte des Doms bildet. Zugleich auch zu der Biographie des
Meisters. Denn offenbar ist, daß hier der kunstreiche Meißel seiner unermüd-
lichen Hand entsank, daß der Tod den Künstler abrief, gerade als er den König
der Ehren und seine durchgrabene Hand aus dem spröden Steine gezaubert
hatte. Es war sein Epitaphium und die dankbare Mit- und Nachwelt hat es so
gehalten. Denn wie leicht wäre es gewesen, die Arbeit zu glätten und jede
Spur des halbfertigen Zustandes zu verwischen. Wie hochgeehrt muß dieser
Mann in den Herzen seiner Zeitgenossen gestanden haben, daß man dies Stück
Kreis Naumburg.
übergangen, welcher kleinere, dichtere Vertiefungen hinterlassen hat. Brust,
Kopf und rechte Hand Christi und Maria ganz haben schon den dritten Zustand
erreicht; sie sind mit dem Breitmeißel geglättet, in allen Details fein aus-
gearbeitet und geschliffen. Die einzelnen Schläge des Breitmeißels ohne Schliff
kann man an der linken Hand Christi, der Mantelfalte vor der Bank und dem
Zipfel unter der Hand Marias beobachten. Die Augensterne sind schon bei allen
drei Figuren mit Schwarz bezeichnet, auch bei Johannes auf der groben Stockung.
Dies Hilfsmittel wandte der Künstler offenbar an, um gleich von vornherein die
Sehlinien, die Stellung und Richtung der Augen festzulegen und die Komposition
zu binden.
Wirkliche Überraschung bereitet aber nun die Beobachtung, daß am Kopfe
Christi und sonst vereinzelt kleine Bohrungen auftreten, ganz deutlich auf der
Stirnlocke, an den Wangen, mitten zwischen den Lippen, auf den Locken des
Johannes. Es sind dies die Lehrpunkte, welche entstehen, wenn ein Modell mit
dem Kugelzirkel auf den vorgearbeiteten Stein abpunktiert wird, um die genauen
Verhältnisse und die Höhen- und Tiefenlagen der einzelnen Glieder und Flächen
festzulegen. Daß die mittelalterlichen Künstler etwa seit dem 12. Jahrhundert
nicht mehr nach Zeichnungen oder aus freier Hand, sondern nach besonders
entworfenen Tonmodellen gearbeitet habeni ist schon immer gemutmaßt worden.
Hier haben wir durch eine seltene Fügung den evidenten Beweis dafür, ein
kleines Lehrstück der Bildhauerkunst, an dem wir den Entwurf, die stückweise
Vollendung und den Gebrauch aller nötigen Instrumente beobachten können.
Es sind dieselben, die bis vor kurzem der gewöhnliche Steinbildhauer noch
benutzte. Man kann schließen, daß der Meister auch seine übrigen Bildwerke
nach dieser Methode geschaffen hat. Daher die große Sicherheit und Bestimmt-
heit seiner Formen. Die Studien, Entwürfe und Verbesserungen waren mit der
Vollendung des Modells abgeschlossen. Und dieses selbst wird er am lebenden
Menschen entworfen haben, bei den großen Figuren vielleicht in natürlicher
Größe. Denn hätte er eine Gliederpuppe benutzt, so würde sich die wunder-
bare Beweglichkeit seiner Körper und die Bildnistreue seiner Köpfe nicht erklären.
Wie bemerkt, steht das Stück im Verband einer Tür des Ostchors, dicht
neben der romanischen Wandsäule und es ist hier am Ort nach der Versetzung
weiter bearbeitet. Es geht daraus hervor, daß der Ostchor unmittelbar nach
Vollendung des Westchores begonnen wurde und zur Zeit, als der Plastiker den
Bildschmuck jenes vollendet hatte und für den Ostchor frei wurde, schon bis zu
dieser Höhe gediehen war. Trat der Künstler um 1250 (vielleicht noch früher)
in die hiesige Arbeit ein und widmete den großen Werken rund 30 Jahre, so
konnte er um 1280 das kleine Werk beginnen, welches ein unschätzbares Doku-
ment zur Baugeschichte des Doms bildet. Zugleich auch zu der Biographie des
Meisters. Denn offenbar ist, daß hier der kunstreiche Meißel seiner unermüd-
lichen Hand entsank, daß der Tod den Künstler abrief, gerade als er den König
der Ehren und seine durchgrabene Hand aus dem spröden Steine gezaubert
hatte. Es war sein Epitaphium und die dankbare Mit- und Nachwelt hat es so
gehalten. Denn wie leicht wäre es gewesen, die Arbeit zu glätten und jede
Spur des halbfertigen Zustandes zu verwischen. Wie hochgeehrt muß dieser
Mann in den Herzen seiner Zeitgenossen gestanden haben, daß man dies Stück