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Blätter der Galerie Ferdinand Möller: Theo von Brockhusen — Berlin: Galerie Ferdinand Möller, Heft 4.1929

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Wolfradt, Willi: Munch-Graphik in der Galerie Ferdinand Möller
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https://doi.org/10.11588/diglit.49702#0012
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MUNCH-GRAPHIK
in der Galerie Ferdinand Möller
Die Selbstüberschätzung, der sich die Zeiten hinsichtlich
ihrer technischen Wunderleistungen, ihrer wissenschaftlichen
Fortschritte und ihres politisch - kommerziellen Unternehmungs-
geistes zu überlassen pflegen, scheinen sie durch eine sonderbare
Bescheidenheit in der Bewertung ihrer Kunst kompensieren zu
wollen. Kein Gegenwartsstolz, wie immer geschwellt im Voll-
bewußtsein letzter Errungenschaften und Rekorde, wäre so ver-
messen, einen heute lebenden Künstler auch nur entfernt den
großen und berühmten Meistern der Vergangenheit gleichzu-
achten. Daß Edvard Munchs graphisches Werk ernstlich den
Leistungen Rembrandts oder Dürers auf diesem Gebiete an die
Seite gestellt werden könnte, kommt von vornherein und grund-
sätzlich gar nicht in Betracht. Noch diejenigen, welche Munchs
inne sind und ihn in Verehrung nennen, ihm als dem Mittler
niemals zuvor berührter Unergründlichkeiten und als dem Er-
oberer ganz neuer zeichnerischer Ausdruckspotenzen epochale
Bedeutung zuerkennen, wagen es nicht ohne einen gewissen
„selbstverständlichen“ relativierenden Vorbehalt zu tun.
Es mag nun wenig darauf ankommen, wie sich die Mitwelt im
einzelnen Falle zum Schaffenden stellt und ob sie, immerhin doch
seines Genius gewahr, ihm auch seinen vollen Rang einräumt. Aber
eben jene Grundsätzlichkeit einschränkender Bewertung kann
nicht einfach hingenommen werden. Wenn etwas sie zu erschüt-
tern vermag, dann sollte es die Begegnung und Wiederbegegnung
mit Munch, insbesondere mit seiner geheimnistiefen, leidenschaft-
lichen, alle Dimensionen der Einsamkeit in magischer Schrift
erfüllenden Graphik zuwege bringen. Die jetzt in der Galerie
Ferdinand Möller zusammengetragenen Blätter — Radierungen,
Holzschnitte und Lithographien aus vier Jahrzehnten — stellen
naturgemäß nur einen Bruchteil seines Schwarzweiß-Werkes
dar und gewähren gleichwohl das bestürzende Erlebnis einer mit
aller bangen und besessenen, traumgebundenen und ausbrechen-
den Stummheit der Welt vermählten Sprachgewalt von uner-
meßlicher Vielfalt der leisesten und heftigsten Zeichen. Es fehlen
in dieser Reihe nicht jene frühesten Bildnis-Radierungen, deren
zart kreisendes Strichgewebe die Helle des Antlitzes oval um-
schließt, noch etwa das geisterhaft vor schwarzem Vorhang
schwebende Ibsen-Haupt, neben dem man durchs Fenster mür-

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