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Blätter der Galerie Ferdinand Möller: Vision und Formgesetz — Berlin: Galerie Ferdinand Möller, Heft 8.1930

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Kàllai, Ernst: Vision und Formgesetz
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https://doi.org/10.11588/diglit.49705#0003
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BLATTER der GALERIE
FERDINAND MÖLLER

SEPTEMBER 1930 • HEFT S

VISION UND FORMGESETZ
Die Abkehr vom Impressionismus war eine Wendung vom
Augenschein der Dinge zu ihrem Wesen, von der Perspektive
zur Vision, vom Abbild zur Baugestalt. Die Kunst begnügte sich
nicht mehr damit, eine Betrachtung von Naturausschnitten zu
gestalten. Sie kam zu der Gewißheit, im eigenen Blut und Geist
das Erlebnis der Gesamtheit zu tragen. Als reißende Gewalt von
Urtrieben und als Harmonie objektiver Gesetzmäßigkeit. Sie
wühlte als Expressionismus alle Leidenschaften der Farbe auf
und ließ als Konstruktivismus die feinsten, zahl- und maßbe-
stimmten Beziehungen zwischen Fläche, Raum und Form in Er-
scheinung treten. Geht man auf ihren ersten entscheidenden
Anbruch im Werk eines Cezanne und van Gogh, auf ihre wetter-
leuchtenden Vorzeichen Redon und Ensor zurück, so hat diese
vielumstrittene Kunst eine Entwicklung von fünfzig Jahren und
unabsehbaren weiteren Möglichkeiten erreicht — indes von allen
Dächern das kritische Spatzengepfeife zu hören ist: die „Ismen“
sind tot, zurück zur Natur, zurück zur Wirklichkeit. Allerdings:
visionäre Vertiefung und strenges Baugesetz sind Ideale, die bei
der gespreizten Geistesfremdheit unserer Gesellschaftsmächte
gleichwie kleinbürgerlicher, mondäner oder marxistischer Prägung
von jedem einzelnen Maler und Bildhauer einen ungewöhnlichen
Grad an geistigem Distanzgefühl und Mut zum Isoliertsein er-
fordern. Tugenden, die heute weniger denn je auf der Straße
liegen. Ihre Vertreter in der Kunst sind ungleich seltener als
die Akademiker und Genremaler modernen Couleurs. Nichts
leichter, als bei dem großen Aufgebot leicht eingehender Realismen
und Impressionismen die verhältnismäßig wenigen Beispiele
abstrakter Gestaltung zu übersehen oder zu bagatellisieren.

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