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In der Anbetung des Kindes (Taf. XXIII) im Mittel-Anbetung
° v ' des Kindes.
bilde haben wir mit der ganzen Zartheit und dem Duft der
Knospe, was in dem Marienbilde des Isenheimer Altars voll er-
blüht ist. Alles in diesem Bilde ist höchst individuell. Mit
leisen Mitteln eine Fülle des lebendigsten Ausdrucks, in der
Kopfneigung und den fast geschlossenen Augen Maria, in Blick
und Bewegung des Kindes, das mit gekreuzten Armen in seinem
steinernen Troge feierlich und inbrünstig sich aufrichtet, höhere
Eigenschaften kundgebend als gewöhnliche Kinder. So begreifen
wir die erregte Andacht der vier Engelchen, die es umgeben.
Einer wiederholt das Lieblingsmotiv der gekreuzten Arme. Wir
verstehen die Mienen der beiden Hirten, in denen Erregung,
Ueberraschung, Ergriffenheit deutlich geschrieben stehen. Nur
Joseph ist nicht erbaut von der Bescheerung. Er dreht
der Szene den Rücken und sein Blick um die Ecke und der
ungemein drastische Gestus der Hände sagen, was er von der
Geschichte hält. Im Hintergrunde aber liegt ein zauberisches
Licht über der Landschaft, in der einem Hirten bei der Herde
die Verkündigung widerfährt. Wer freilich hier «schöne Ge-
sichter» suchen sollte, würde sich enttäuscht finden. Grünewalds
Ideal wie das aller germanischen Kunst lag nach ganz andrer
Richtung: charakteristische Kunst, Seele, Empfin-
dung, darum ausdrucksvolle T y p e n, ausdrucks-
volle Mimik, ausdrucksvolle Gesten, und Licht,
Farbe. Die «Schönheit» dieser Maria, dieser Engel ist darum
eine malerische. Diese WTangen von Milch und Blut im vollen
Licht sind für das Auge dominierend, farbige Reize bezeichnen
die höhere Art dieser Mutter: goldner Nimbus, Perlendiadem,
weiß-silbrig schimmerndes Kopftuch, Goldbrokatgewand, goldene
Säume und Sterne am Mantel: in goldenen Gewändern und
Mänteln diese Engel, das zartrosige Inkarnat sehr fein im Halb-
schatten, während das Kind in weißem Linnen hervorleuchtet.
Noch stärker beschattet Joseph und die Hirten. Indem Grüne-
wald aufs Feinste die Abtönung im natürlichen Licht beobachtet,
verwendet er Licht und Schatten mit den feinen Uebergangs-
stufen des Helldunkels gleichzeitig als Mittel des Ausdrucks, der
Charakterisierung, der Komposition. Dem entspricht die Ver-
schmähung der perspektivischen Tiefenerstreckung. Wie mit Ab-
In der Anbetung des Kindes (Taf. XXIII) im Mittel-Anbetung
° v ' des Kindes.
bilde haben wir mit der ganzen Zartheit und dem Duft der
Knospe, was in dem Marienbilde des Isenheimer Altars voll er-
blüht ist. Alles in diesem Bilde ist höchst individuell. Mit
leisen Mitteln eine Fülle des lebendigsten Ausdrucks, in der
Kopfneigung und den fast geschlossenen Augen Maria, in Blick
und Bewegung des Kindes, das mit gekreuzten Armen in seinem
steinernen Troge feierlich und inbrünstig sich aufrichtet, höhere
Eigenschaften kundgebend als gewöhnliche Kinder. So begreifen
wir die erregte Andacht der vier Engelchen, die es umgeben.
Einer wiederholt das Lieblingsmotiv der gekreuzten Arme. Wir
verstehen die Mienen der beiden Hirten, in denen Erregung,
Ueberraschung, Ergriffenheit deutlich geschrieben stehen. Nur
Joseph ist nicht erbaut von der Bescheerung. Er dreht
der Szene den Rücken und sein Blick um die Ecke und der
ungemein drastische Gestus der Hände sagen, was er von der
Geschichte hält. Im Hintergrunde aber liegt ein zauberisches
Licht über der Landschaft, in der einem Hirten bei der Herde
die Verkündigung widerfährt. Wer freilich hier «schöne Ge-
sichter» suchen sollte, würde sich enttäuscht finden. Grünewalds
Ideal wie das aller germanischen Kunst lag nach ganz andrer
Richtung: charakteristische Kunst, Seele, Empfin-
dung, darum ausdrucksvolle T y p e n, ausdrucks-
volle Mimik, ausdrucksvolle Gesten, und Licht,
Farbe. Die «Schönheit» dieser Maria, dieser Engel ist darum
eine malerische. Diese WTangen von Milch und Blut im vollen
Licht sind für das Auge dominierend, farbige Reize bezeichnen
die höhere Art dieser Mutter: goldner Nimbus, Perlendiadem,
weiß-silbrig schimmerndes Kopftuch, Goldbrokatgewand, goldene
Säume und Sterne am Mantel: in goldenen Gewändern und
Mänteln diese Engel, das zartrosige Inkarnat sehr fein im Halb-
schatten, während das Kind in weißem Linnen hervorleuchtet.
Noch stärker beschattet Joseph und die Hirten. Indem Grüne-
wald aufs Feinste die Abtönung im natürlichen Licht beobachtet,
verwendet er Licht und Schatten mit den feinen Uebergangs-
stufen des Helldunkels gleichzeitig als Mittel des Ausdrucks, der
Charakterisierung, der Komposition. Dem entspricht die Ver-
schmähung der perspektivischen Tiefenerstreckung. Wie mit Ab-