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Braun, Joseph
Der christliche Altar in seiner geschichtlichen Entwicklung (Band 2): Die Ausstattung des Altars, Antependien, Velen, Leuchterbank, Stufen, Ciborium und Baldachin, Retabel, Reliquien- und Sakramentsaltar, Altarschranken — München, 1924

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https://doi.org/10.11588/diglit.2049#0425
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Viertes Kapitel. Formaie und stilistische Ausgestaltung des Retabels 409

Übrigens wurde das gotische Retabel dem romanischen vorgezogen, wie ja auch
für die Kirchenbauten bis gegen Ausgang des 19. Jahrhunderts vornehmlich die
Gotik zur Anwendung kam. In Frankreich knüpfte man bei Errichtung gotischer
Retabeln bald an den Typus des mittelalterlichen französischen Tafelretabels, bald
an den eines gotischen architektonischen Aufbaues an. In den Niederlanden, in
Belgien und in Deutschland gab man dem gotischen Retabel anfangs lange Zeit
fast ausschließlich die Form eines mit Giebeln und Türmchen abschließenden architek-
tonischen Aufbaues, später schuf man dort jedoch auch zahlreiche der so wirksamen
Flügel retabeln, die wahrscheinlich noch größere Pflege gefunden hätten, wenn die
befriedigende Anbringung eines würdigen Tabernakels und einer Nische zum Aus-
setzen des hhl. Sakramentes bei ihnen minder schwierig wäre. Was in England
an gotischen Retabeln entstand, zeigte gewöhnlich entweder den Typus eines frei
stehenden architektonischen Aufbaues oder einer Wandarchitektur. Eine Eigentüm-
lichkeit vieler dieser neugotischen englischen Retabeln ist, daß sie des Bildwerks
ganz oder doch fast ganz entbehren, also lediglich Architekturstücke darstellen.

Die Zahl der gotischen Retabein, die allenthalben entstanden, wo die christliche
Kunst sich zu neuem Leben und zu neuer Blüte erhob, ist außerordentlich groß.
Begreiflicherweise war manches gering- oder doch recht minderwertig, doch wurden
auch sehr viele Retabeln geschaffen, die nach Aufbau, Stil und Bildwerk unbedenk-
lich den besten "Werken der mittelalterlichen Gotik angereiht werden dürfen.

Das Barockretabel war verpönt; es galt als Ausbund aller Geschmacklosigkeit
und als künstlerisch wertlos. Zahlreiche tüchtige Retabeln dieser Art wurden aus
puristischer Voreingenommenheit aus den mittelalterlichen Kirchen, in denen sie
frommer Sinn im 17. und IS. Jahrhundert errichtet hatte, entfernt und auf den
Kirchen spei eher verwiesen, wenn nicht gar ganz vernichtet. Selbst Barockkirchen
stattete man nun mit romanischen oder doch romanisierenden, ja mit gotischen
Retabeln aus. Wollte man sie aber mit stilgerechten neuen Retabeln versehen, so
nahm man mit Vorzug als Vorbilder Retabeln der Früh- und Hochrenaissance, die
man obendrein meist nur äußerlich und in wenig verständnisvoller Weise nach-
bildete. Erst um das Ende des 19. Jahrhunderts gelangte das Retabel des 17. und
18. Jahrhunderts wieder zur verdienten Würdigung; ja, es wurde jetzt in gewisser
Einseitigkeit und Befangenheit sehr häufig zu hoch eingeschätzt. Nun entstanden
in Barockkirchen auch wieder neue Retabeln, die im Sinne und in den Formen des
Hoch- und Spätbarocks behandelt und gestaltet waren.

In Deutschland hat man um die Wende des 19. und im Beginn des 20. Jahr-
hunderts unter dem Einfluß der sog. neuzeitlichen Kunstbestrebungen im
Aufbau und im Stil des Retabels Neues zu schaffen versucht. Daß das mit Erfolg
geschehen sei, läßt sich nicht gerade behaupten. Was man zuwege brachte, war
nur in recht geringem Maße befriedigend. Es war aber auch durchweg nicht etwas
Neues, sondern bloß eine mehr oder weniger willkürliche Verballhornung früherer
Typen, Stilformen und Stilmotive. Eine Aussicht, Gemeingut zu werden, und wäre
es auch nur Gemeingut eines enger begrenzten Bereichs, haben diese Versuche des-
halb auch nicht. Ob es überhaupt möglich ist, im Retabelbau etwas wirklich Neues,
das zugleich brauchbar und empfehlenswert ist, zu ersinnen? Nur unzureichende
Kenntnis dessen, was die früheren Zeiten alles an kleinen und großen Retabeln der
verschiedensten Art geschaffen haben, kann von einer solchen Möglichkeit träumen,
fürchfe ich.

Es ist gewiß wenig erfreulich, daß wir heute im Gegensatz zur früheren Zeit
keine herrschenden Grundtypen und Überlieferungen für den Ret ab ei bau mehr
haben, die, wie die Vergangenheit lehrt, so wenig eine lebensvolle und gedeihliche
Pflege desselben hindern, daß sie vielmehr die einzige solide Grundlage derselben
bilden. Solange das aber nicht der Fall ist — und es dürfte in absehbarer Zeit nicht
anders werden —, solange also auch unsere Zeit nichts wahrhaft Eigenes und Eigen-
artiges im Retabelbau aufzuweisen hat, haben auch die sog. historischen Stile für den-
 
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