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Braus, Hermann
Anatomie des Menschen: ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte (Band 1): Bewegungsapparat — Berlin, Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.15149#0233
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Schulter.

falls allein vollziehen können, wenn Auge und Ohr versagen. Beim Bein und
Fuß haben ähnliche Einrichtungen durch den aufrechten Gang eine Einschrän-
kung erfahren. Dagegen führten knöcherne Verankerungen des Beckens, wie
bei einem feststehenden Kran zur Sicherung des Standes und Ganges des
Menschen.

Solche Überlegungen erläutern die Wichtigkeit der Plattform gegenüber
dem Gestänge in den freien Gliedmaßen selbst. Ich stelle deshalb die Beschrei-
bung des Schultergürtels an erste Stelle und behandle die freie Gliedmaße
(Arm und Hand) in einem anschließenden besonderen Abschnitt. Es fügen sich,
wie erwähnt, Teile des Schultergürtels an das Brustbein und Teile seiner Muskeln
an den Brustkörb an (Vorder-, Seiten- und Hinterfläche). Dadurch gewinnt
dieses Kapitel engste Beziehung zu den vorhergehenden. Denn die Extremi-
tätenmuskeln verdecken äußerlich die vordere und hintere Rumpfregion. Wir
finden sie an der Brust, am Hals und Rücken, ja selbst in den Randpartien
des Bauches. Bei der Präparation werden sie in allen diesen Regionen berück-
sichtigt werden müssen, ehe man zu den eigentlichen Stammuskeln vordringen
kann. Hier sind dagegen alle zur Extremität gehörigen Elemente zusammen-
gefaßt und als Brustschulterapparat bezeichnet, weil damit das wichtigste
Merkmal ihrer Lage hervorgehoben ist.

Wir gewinnen durch diese Art der Betrachtung erst einen Einblick in die
eigentlichen Bau- und Formprinzipien eines ungemein wichtigen Apparates, der
nicht voll verstanden werden kann, wenn seine Teile nach regionären Gesichts-
punkten bald an dieser, bald an jener Stelle und außer allem genetischen und funk-
tionellen Zusammenhang behandelt werden.

Zum Brustschulterapparat gehörender Schultergürtel, seine Derivate (S. 226)
und sämtliche Muskeln, die an diesen Skeletteilen befestigt sind; nicht dazu rechne
ich das Brustkorbskelett und die autochthonen Brustmuskeln (siehe S. 139, 150).

Richer a I Ederen Wirbeltieren (Haien) ist jede Hälfte des Schultergürtels ein

Schuiter: einfacher knorpeliger Reif; die eine ist rechts, die andere links in die Rumpf-
Haien ' muskulatur eingelassen und durch sie gehalten (Abb. 321). Jederseits fügt sich
an die Mitte des Reifs das Skelett der freien Gliedmaße an, wie sich der Ober-
armknochen, Humerus, an den Schultergürtel der höheren Tiere anschließt;
die beiden Hälften sind beim erwachsenen Tier in der ventralen Mittellinie
durch derbes Bindegewebe fest verlötet (Abb. 121a). So deutlich wie in solchen
primitiven Zuständen ist der Schulter, ,gürtel" bei keinem anderen Wirbeltier.
Denn später wird die Einheit des Materiales (Knorpel) ersetzt durch eine Mehr-
heit von Knochen der verschiedensten Art, welche ihre besondere Bedeutung
im Rahmen des Ganzen haben. Trotzdem ist die Gürtelform im wesentlichen
Umriß bei allen Wirbeltieren und beim Menschen unverkennbar, wenn man
die Einzelteile in ihrer natürlichen Ruhelage betrachtet (Klavikula imd Skapula,
Abb. 124. 120).

Haimo- Daß der embryonale Schultergürtel in Parzellen anstatt in continuo ver-

Dtentieiles knorpeln kann, ist kein Gegenbeweis gegen seine Einheitlichkeit. Man muß sich auf

System Grund experimenteller Isolierungen, von Gürtelstückchen bei Amphibien (Unke)
vorstellen, daß hinter dem mikroskopischen Bild diskreter Knorpelkerne ein ein-
heitliches Sckultergürtelblastem versteckt liegt; in diesem scheiden bestimmte
Stellen die Grundsubstanz früher ab als die anderen; nur deshalb fallen sie bei der
mikroskopischen Betrachtung besonders auf (vgl. S. 139). Außerdem wird die in sich
geschlossene Einheitlichkeit der Anlage durch ein anderes Resultat der Experimente
positiv erhärtet. Ein nicht zu kleines Stück des S.chultergürtefblastems entwickelt
sich, wenn es_&ri_eine andere StelTe des Körpers transplantiert wird und dort zur
Entfaltung kommt, zu einer vollständigen Gürtelhälfte der betreffenden Körper-
seite. Diese ist allerdings kleiner als gewöhnlich, aber wohl proportioniert wie ein
gut gewachsener Zwerg. Man nennt eine solche Anlage ein harmonisch-äqui-
potentielles System. Den gleichen Sachverhalt findet man bei jungen See-
igeleiern, für welche der Ausdruck zuerst geprägt wurde: isolierte Fragmente von
solchen haben, jedes für sich, die Potenz — deshalb „äquipotentiell" — sich zu einem
 
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