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Troische Miszellen. Iliupersis.
uns nicht für andere Darstellungen Folgerungen zu ziehen gestattet. Im
Bilde des Brygos aber widerspricht außerdem der schöne Schmuck im Haar
durchaus dem Wesen einer Sklavin, in welcher Rolle Aithra hier erscheinen
müßte. Nicht mindere Schwierigkeiten bietet die Gruppe der Andromache.
Es ist wohl die Frage gestattet, ob dieses wild anstürmende Weib die ge-
ringste Ähnlichkeit mit dem Charakter der edlen, duldenden Gattin des
Hektor hat, wie er uns in übereinstimmender Weise durch die ganze poetische
Überlieferung des Altertums entgegentritt. Fragen dürfen wir ferner, ob
wir in der einem Andromachos zu Hilfe eilenden Andromache gerade die
Gattin des Hektor zu erkennen haben. Es scheint allerdings nötig wegen
der Nähe des Astyanax. Aber dieser fliehende Astyanax, wo hat er in
Poesie oder Kunst sein Vorbild? Und wird nicht die von dem Maler durch
das Fortlaufen der Darstellung unter einem der Henkel stark betonte Ein-
heit des ganzen Bildes durch den doppelten Astyanax, den fliehenden und
den von Neoptolemos dem Tode geweihten, vollständig zerrissen? Wo alle
Versuche, die Schwierigkeiten einzeln zu lösen, nicht nur bis jetzt gescheitert
sind, sondern überhaupt ziemlich hoffnungslos erscheinen, da werden wir es
schon einmal wagen dürfen, den Knoten mit einem Schlage zu zerhauen
oder richtiger: durch eine einzige prinzipielle Entscheidung die verschiede-
nen Schwierigkeiten insgesamt aus dem Wege zu räumen:
Zwei Elemente sind es, auf die wir uns bei der Interpretation dieser
Vase angewiesen sehen: 1. die Figuren in ihrer äußeren Erscheinung und
lebendigen Handlung, und 2. die Inschriften. Stellen wir jetzt die Frage,
welchem Elemente die größere Autorität gebührt, so werden wir vom
archäologischen Standpunkte aus bei einem so sorgfältig durchgeführten
Gemälde um die Antwort nicht verlegen sein dürfen. In einem Kunstwerke
muß in erster Linie das, was sich in den künstlerischen Motiven klar aus-
spricht, für die Erklärung bestimmend sein, und kein beigefügter Name
vermag die Bedeutung einer in klaren Zügen dargestellten Handlung zu
verändern. Betrachten wir also zunächst die Malerei des Brygos für sich
allein und ohne uns um die beigeschriebenen Namen zu kümmern.
Keiner weiteren Erklärung bedarf die Hauptszene: Priamos auf dem
Altar und Neoptolemos, welcher den Astyanax zu zerschmettern im Begriff
ist. In ihrer typischen Durchbildung, die keinem Mißverständnisse Raum
bietet, führt sie uns in einen bestimmten Kreis ein, innerhalb dessen die
Deutung der übrigen Szenen mit Notwendigkeit gesucht werden muß. Was
in dem von dieser Gruppe wegschreitenden Paare Akamas und Polyxena
oder Aithra anzuerkennen uns hindert, ist bereits oben angedeutet worden.
Aber es bleibt noch eine dritte Wegführung übrig, auf welche bereits
Overbeck S. 624 Anm. 4 beiläufig hingewiesen hat: die Wegführung der
Helena durch Menelaos. Für Helena paßt die jugendlich schöne Gestalt,
paßt auch der vornehme Schmuck der Stirnbinde. Für sie schickt es sich,
daß sie bei dem drohenden Tode des Priamos und Astyanax zwar nicht in
wilde Verzweiflung ausbricht, wohl aber, daß sie noch einen teilnehmenden
Blick nach dem Schicksale derjenigen zurückwendet, in deren Mitte sie so
lange gelebt. Während ferner ein Enkel der Aithra seinen Blick auf die
wiedergefundene Aithra richten würde, schreitet Menelaos ernst voran. Die
erste Begegnung war keine freundliche; und wenn auch nach Lesches beim
Anblick der Helena der Hand des Menelaos das Schwert entsinkt, so scheint
Troische Miszellen. Iliupersis.
uns nicht für andere Darstellungen Folgerungen zu ziehen gestattet. Im
Bilde des Brygos aber widerspricht außerdem der schöne Schmuck im Haar
durchaus dem Wesen einer Sklavin, in welcher Rolle Aithra hier erscheinen
müßte. Nicht mindere Schwierigkeiten bietet die Gruppe der Andromache.
Es ist wohl die Frage gestattet, ob dieses wild anstürmende Weib die ge-
ringste Ähnlichkeit mit dem Charakter der edlen, duldenden Gattin des
Hektor hat, wie er uns in übereinstimmender Weise durch die ganze poetische
Überlieferung des Altertums entgegentritt. Fragen dürfen wir ferner, ob
wir in der einem Andromachos zu Hilfe eilenden Andromache gerade die
Gattin des Hektor zu erkennen haben. Es scheint allerdings nötig wegen
der Nähe des Astyanax. Aber dieser fliehende Astyanax, wo hat er in
Poesie oder Kunst sein Vorbild? Und wird nicht die von dem Maler durch
das Fortlaufen der Darstellung unter einem der Henkel stark betonte Ein-
heit des ganzen Bildes durch den doppelten Astyanax, den fliehenden und
den von Neoptolemos dem Tode geweihten, vollständig zerrissen? Wo alle
Versuche, die Schwierigkeiten einzeln zu lösen, nicht nur bis jetzt gescheitert
sind, sondern überhaupt ziemlich hoffnungslos erscheinen, da werden wir es
schon einmal wagen dürfen, den Knoten mit einem Schlage zu zerhauen
oder richtiger: durch eine einzige prinzipielle Entscheidung die verschiede-
nen Schwierigkeiten insgesamt aus dem Wege zu räumen:
Zwei Elemente sind es, auf die wir uns bei der Interpretation dieser
Vase angewiesen sehen: 1. die Figuren in ihrer äußeren Erscheinung und
lebendigen Handlung, und 2. die Inschriften. Stellen wir jetzt die Frage,
welchem Elemente die größere Autorität gebührt, so werden wir vom
archäologischen Standpunkte aus bei einem so sorgfältig durchgeführten
Gemälde um die Antwort nicht verlegen sein dürfen. In einem Kunstwerke
muß in erster Linie das, was sich in den künstlerischen Motiven klar aus-
spricht, für die Erklärung bestimmend sein, und kein beigefügter Name
vermag die Bedeutung einer in klaren Zügen dargestellten Handlung zu
verändern. Betrachten wir also zunächst die Malerei des Brygos für sich
allein und ohne uns um die beigeschriebenen Namen zu kümmern.
Keiner weiteren Erklärung bedarf die Hauptszene: Priamos auf dem
Altar und Neoptolemos, welcher den Astyanax zu zerschmettern im Begriff
ist. In ihrer typischen Durchbildung, die keinem Mißverständnisse Raum
bietet, führt sie uns in einen bestimmten Kreis ein, innerhalb dessen die
Deutung der übrigen Szenen mit Notwendigkeit gesucht werden muß. Was
in dem von dieser Gruppe wegschreitenden Paare Akamas und Polyxena
oder Aithra anzuerkennen uns hindert, ist bereits oben angedeutet worden.
Aber es bleibt noch eine dritte Wegführung übrig, auf welche bereits
Overbeck S. 624 Anm. 4 beiläufig hingewiesen hat: die Wegführung der
Helena durch Menelaos. Für Helena paßt die jugendlich schöne Gestalt,
paßt auch der vornehme Schmuck der Stirnbinde. Für sie schickt es sich,
daß sie bei dem drohenden Tode des Priamos und Astyanax zwar nicht in
wilde Verzweiflung ausbricht, wohl aber, daß sie noch einen teilnehmenden
Blick nach dem Schicksale derjenigen zurückwendet, in deren Mitte sie so
lange gelebt. Während ferner ein Enkel der Aithra seinen Blick auf die
wiedergefundene Aithra richten würde, schreitet Menelaos ernst voran. Die
erste Begegnung war keine freundliche; und wenn auch nach Lesches beim
Anblick der Helena der Hand des Menelaos das Schwert entsinkt, so scheint