504
DIE RATIONALISTISCHE UND DIE EXPRESSIVE RICHTUNG
15. KonradWitz: Anbetung der Könige. Genf, Musee archeo-
logique.
begleitet, die kniende Magdalena dem Gan-
zen sich als Basis vorlagert und schließ-
lich die Ranke am dünnen Gestell mit
ihrem fe'nen Laub alles krönt, das ergibt
einen sanft eindringlichen Rhythmus von
unbeschreiblicher Schönheit. Man denkt
an den melancholischen Reiz eines März-
nachmittags, und märzlich mutet diese
Kunst an mit ihren verklingenden Akkor-
den und den herben Anläufen, mit ihren
plötzlichen Übergängen und stockenden
Melodien.
Der Altarrahmen trägt die oft
zitierte Inschrift: „Lukas Moser,
maler von Wil, maister des Werx, bit
Got vir in. Schri Kunst schri, und
klag dich ser, dein begert jetzt niemer
mer, so o we 1431.“ Man könnte
ja versucht sein, diesen letzten Stoß-
seufzer volkswirtschaftlich so zu deu-
ten, als ob nach den unvergeßlich
prunkvollen Jahren des Konzils eine
traurige Zeit für Maler gekommen wäre, wo die Kunst nach Brot ging. Jedoch dieses
einzige erhaltene Werk des eigenartigen Künstlers macht die Vermutung wahrscheinlicher,
daß es den alternden Mann drängte, seinem Groll über die neu heranbrechenden Ideen
Ausdruck zu geben, deren Triumph er ahnend voraussah, während er mit seinem Herzen
an der alten Zeit hing. Das Zeitalter gehörte den Jungen, den Draufgängern ohne Bedenken,
den Witz und den Multscher.
In den einleitenden Erörterungen wurden diese beiden Künstler umfassend behandel4-
und so konnte vielleicht der Eindruck einer Gleichartigkeit beider entstehen. Indessen, wenn
jemals zwei Repräsentanten eines Zeitstils voneinander verschieden waren, so sind sie es ge-
wesen. Man muß eben feststellen, daß die deutsche — eigentlich die schwäbische — Malerei,
gleich nachdem sie die neuen Errungenschaften sich zu eigen zu machen anfing, nach zwei
entgegengesetzten Richtungen hin sich gabelte, nach der rationalistischen und der ex-
pressiven. Wenn Witz mit nüchternem Blick sich der Gestalt und ihrer Einzelheiten bemäch-
tigte, sie als das schlechthin Gegebene ansah und eine Transzendenz außerhalb der Dinge
einfach leugnete, erfaßte Multscher den Menschen an seinem geistigen Gehalt, er hob
ihn gleichsam aus den Angeln vermöge seiner inbrünstigen Empfindung und ließ Bäume,
Felsen, Gewänder nur insofern gelten, als sie zur Steigerung seines Ausdrucks beitragen
konnten. Beide sind sie revolutionär gesinnt, beide wollen die Kunst ihrer Zeit „an Kopf
und Gliedern“ reformieren (ein Ausdruck übrigens, der gerade auf dem Konstanzer und
Basler Konzil eine große Rolle spielte), aber wo Witz das Übel in der schwächlichen,
matten, flauen Durchbildung jeglicher Körper, sei es der belebten, sei es der unbelebten
Natur, sieht, da beseelt Multscher ein echter Protestantengeist, der den schönen Augenauf-
schlag und das fromme Händefalten verabscheut, dafür aber die Passion des Herrn im Geiste
selbst durchmacht, unter den Schlägen der Häscher sich krümmt und das Wunder der
Auferstehung miterlebt.
DIE RATIONALISTISCHE UND DIE EXPRESSIVE RICHTUNG
15. KonradWitz: Anbetung der Könige. Genf, Musee archeo-
logique.
begleitet, die kniende Magdalena dem Gan-
zen sich als Basis vorlagert und schließ-
lich die Ranke am dünnen Gestell mit
ihrem fe'nen Laub alles krönt, das ergibt
einen sanft eindringlichen Rhythmus von
unbeschreiblicher Schönheit. Man denkt
an den melancholischen Reiz eines März-
nachmittags, und märzlich mutet diese
Kunst an mit ihren verklingenden Akkor-
den und den herben Anläufen, mit ihren
plötzlichen Übergängen und stockenden
Melodien.
Der Altarrahmen trägt die oft
zitierte Inschrift: „Lukas Moser,
maler von Wil, maister des Werx, bit
Got vir in. Schri Kunst schri, und
klag dich ser, dein begert jetzt niemer
mer, so o we 1431.“ Man könnte
ja versucht sein, diesen letzten Stoß-
seufzer volkswirtschaftlich so zu deu-
ten, als ob nach den unvergeßlich
prunkvollen Jahren des Konzils eine
traurige Zeit für Maler gekommen wäre, wo die Kunst nach Brot ging. Jedoch dieses
einzige erhaltene Werk des eigenartigen Künstlers macht die Vermutung wahrscheinlicher,
daß es den alternden Mann drängte, seinem Groll über die neu heranbrechenden Ideen
Ausdruck zu geben, deren Triumph er ahnend voraussah, während er mit seinem Herzen
an der alten Zeit hing. Das Zeitalter gehörte den Jungen, den Draufgängern ohne Bedenken,
den Witz und den Multscher.
In den einleitenden Erörterungen wurden diese beiden Künstler umfassend behandel4-
und so konnte vielleicht der Eindruck einer Gleichartigkeit beider entstehen. Indessen, wenn
jemals zwei Repräsentanten eines Zeitstils voneinander verschieden waren, so sind sie es ge-
wesen. Man muß eben feststellen, daß die deutsche — eigentlich die schwäbische — Malerei,
gleich nachdem sie die neuen Errungenschaften sich zu eigen zu machen anfing, nach zwei
entgegengesetzten Richtungen hin sich gabelte, nach der rationalistischen und der ex-
pressiven. Wenn Witz mit nüchternem Blick sich der Gestalt und ihrer Einzelheiten bemäch-
tigte, sie als das schlechthin Gegebene ansah und eine Transzendenz außerhalb der Dinge
einfach leugnete, erfaßte Multscher den Menschen an seinem geistigen Gehalt, er hob
ihn gleichsam aus den Angeln vermöge seiner inbrünstigen Empfindung und ließ Bäume,
Felsen, Gewänder nur insofern gelten, als sie zur Steigerung seines Ausdrucks beitragen
konnten. Beide sind sie revolutionär gesinnt, beide wollen die Kunst ihrer Zeit „an Kopf
und Gliedern“ reformieren (ein Ausdruck übrigens, der gerade auf dem Konstanzer und
Basler Konzil eine große Rolle spielte), aber wo Witz das Übel in der schwächlichen,
matten, flauen Durchbildung jeglicher Körper, sei es der belebten, sei es der unbelebten
Natur, sieht, da beseelt Multscher ein echter Protestantengeist, der den schönen Augenauf-
schlag und das fromme Händefalten verabscheut, dafür aber die Passion des Herrn im Geiste
selbst durchmacht, unter den Schlägen der Häscher sich krümmt und das Wunder der
Auferstehung miterlebt.