DÜRER: DER ZWEITE AUFENTHALT IN VENEDIG, 1506
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seinen Stil, während der Meister selbst, seinem stetig vorwärts dringenden Geiste neue Nahrung
zu verschaffen, im Jahre 1506, im fünfunddreißigsten seines Lebens, ein zweites Mal, jetzt für
fast acht Monate über die Alpen nach Venedig ging.
Nur äußere Umstände, die engen Handelsbeziehungen Nürnbergs mit der Lagunenstadt,
wo die deutschen Kaufleute ihr eigenes Haus, den Fondaco dei tedeschi, hatten, führten den
Meister gerade hierher. Was ihn nämlich innerlich erneut über die Alpen zog, das Suchen
nach der großen und klaren Form, ist gerade diejenige Eigenschaft, die in der farbenfrohen
malerischen Kunst Venedigs weniger stark als in den Schulen von Florenz und Mittelitalien
zu Hause war. Und in der Tat, wenn Dürer auch in seinen Tafelbildern, die er in Venedig
malte, die einheimischen Künstler, wie er schreibt, selbst durch seine Farben in Verwunderung
gesetzt habe, so kann das doch nicht über den tiefgreifenden Gegensatz, der zwischen seinen
Bildern und den Venezianern bestehen bleibt, hinwegtäuschen. Sein Hauptwerk des dortigen
Aufenthalts ist das große Rosenkranzbild für den Fondaco der Deutschen gemalt und in
stark beschädigtem Zustande im Stifte Strahow bei Prag: die Maria mit dem Kinde thronend,
angebetet vom Papst, dem Kaiser Maximilian und den Mitgliedern der deutschen Kolonie,
in der zentralen Anordnung der venezianischen Santa Conversazione (Einzelheit vgl. Bd. 1,
Abb. 1). Die farbige Haltung dieser Zeit überliefert uns besser das dem vorigen äußerst
nahestehende Bild der Madonna mit dem Zeisig in der Berliner-Galerie; auch hier verleugnen
Komposition und Anordnung der im leuchtendblauen Mantel vor rotem Vorhang sitzenden,
von Engeln gekrönten Maria die Eindrücke venezianischer Madonnenbilder nicht. Aber tritt
man nach Betrachtung des Bildes vor die Bilder des Bellini und Carpaccio, so enthüllt sich «
der tiefgehende Unterschied. Tonig und weich ist die Farbe der Venezianer, von einer Grund-
stimmung zusammengehalten, indessen Dürers Farben glasmalerartig klar, hart und bunt
nebeneinanderstehen. Das dritte in Venedig gemalte Bild, Christus unter den Schriftgelehrten
(Bd. 1, Abb.97), entstand unter dem Eindruck der physiognomischen Studien des Lionardo. Die
zahlreichen sorgsamen Zeichnungen von Händen und Köpfen zu diesem und zum Rosenkranz-
bilde, ferner einige Akt-, Kopf- und Kinderzeichnungen (Abb. 108—110); vgl. auch die Zeichnung
des Kopfes von 1506 in der Albertina, abgebildet im 1. Bande, Abb. 96 a) — meist in Tusche
auf grünlich getöntem Papier mit sorgfältig aufgesetzten weißen Lichtern, weisen ebenfalls
darauf hin, wie stark doch Dürer die Bewältigung der plastischen Form selbst inmitten des
farbenfrohen Lebens in Venedig beschäftigte. Daher reiste er auch nach Bologna, um sich
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seinen Stil, während der Meister selbst, seinem stetig vorwärts dringenden Geiste neue Nahrung
zu verschaffen, im Jahre 1506, im fünfunddreißigsten seines Lebens, ein zweites Mal, jetzt für
fast acht Monate über die Alpen nach Venedig ging.
Nur äußere Umstände, die engen Handelsbeziehungen Nürnbergs mit der Lagunenstadt,
wo die deutschen Kaufleute ihr eigenes Haus, den Fondaco dei tedeschi, hatten, führten den
Meister gerade hierher. Was ihn nämlich innerlich erneut über die Alpen zog, das Suchen
nach der großen und klaren Form, ist gerade diejenige Eigenschaft, die in der farbenfrohen
malerischen Kunst Venedigs weniger stark als in den Schulen von Florenz und Mittelitalien
zu Hause war. Und in der Tat, wenn Dürer auch in seinen Tafelbildern, die er in Venedig
malte, die einheimischen Künstler, wie er schreibt, selbst durch seine Farben in Verwunderung
gesetzt habe, so kann das doch nicht über den tiefgreifenden Gegensatz, der zwischen seinen
Bildern und den Venezianern bestehen bleibt, hinwegtäuschen. Sein Hauptwerk des dortigen
Aufenthalts ist das große Rosenkranzbild für den Fondaco der Deutschen gemalt und in
stark beschädigtem Zustande im Stifte Strahow bei Prag: die Maria mit dem Kinde thronend,
angebetet vom Papst, dem Kaiser Maximilian und den Mitgliedern der deutschen Kolonie,
in der zentralen Anordnung der venezianischen Santa Conversazione (Einzelheit vgl. Bd. 1,
Abb. 1). Die farbige Haltung dieser Zeit überliefert uns besser das dem vorigen äußerst
nahestehende Bild der Madonna mit dem Zeisig in der Berliner-Galerie; auch hier verleugnen
Komposition und Anordnung der im leuchtendblauen Mantel vor rotem Vorhang sitzenden,
von Engeln gekrönten Maria die Eindrücke venezianischer Madonnenbilder nicht. Aber tritt
man nach Betrachtung des Bildes vor die Bilder des Bellini und Carpaccio, so enthüllt sich «
der tiefgehende Unterschied. Tonig und weich ist die Farbe der Venezianer, von einer Grund-
stimmung zusammengehalten, indessen Dürers Farben glasmalerartig klar, hart und bunt
nebeneinanderstehen. Das dritte in Venedig gemalte Bild, Christus unter den Schriftgelehrten
(Bd. 1, Abb.97), entstand unter dem Eindruck der physiognomischen Studien des Lionardo. Die
zahlreichen sorgsamen Zeichnungen von Händen und Köpfen zu diesem und zum Rosenkranz-
bilde, ferner einige Akt-, Kopf- und Kinderzeichnungen (Abb. 108—110); vgl. auch die Zeichnung
des Kopfes von 1506 in der Albertina, abgebildet im 1. Bande, Abb. 96 a) — meist in Tusche
auf grünlich getöntem Papier mit sorgfältig aufgesetzten weißen Lichtern, weisen ebenfalls
darauf hin, wie stark doch Dürer die Bewältigung der plastischen Form selbst inmitten des
farbenfrohen Lebens in Venedig beschäftigte. Daher reiste er auch nach Bologna, um sich