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Carrière, Moriz
Die Kunst im Zusammenhang der Culturentwickelung und die Ideale der Menschheit: [ein Beitrag zur Geschichte des menschlichen Geistes] (Band 5): Das Weltalter des Geistes im Aufgange, Literatur und Kunst im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert — Leipzig, 1874

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https://doi.org/10.11588/diglit.33539#0351

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Goethe und Schiller.

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Wie Goethe mit Aristoteles so vergleicht man Schiller passend
mit Platon. Aber weil er vom Allgenieinen ausging und das Be-
sondere suchte, weil er die Gegenstände zur Idee erst heranzubilden
trachtete, deshalb ist er nicht sofort der fertige Dichter in dem
Maße wie Goethe im Werther, Shakespeare in Romeo und Julie,
sondern er bedurfte eines lungern Weges, er ist der werdende Dich-
ter, bei dem uns oft das Ringen mehr anzieht als das Errungene,
er ist nicht blos Dichter von Natur, sondern auch durch die Macht
des Willens. „Der Geschlechtscharakter des Menschen ist der freie
Wille. Eben das macht den Menschen zum Menschen daß er bei
dem nicht stillsteht was die bloße Natur aus ihm machte, sondern
die Fähigkeit besitzt die physische Nothwendigkeit zu einer moralischen
zu erheben, das Werk der Noth in ein Werk seiner Wahl umzn-
schaffen." Der Dichter und Mensch sind in Schiller eins, sein
Dichterruhm ruht auf seiner Menschenwürde; ja er äußerte einmal:
den Schriftsteller überhüpfe die Nachwelt der nicht größer wäre
als seine Werke. Er ist ausgezeichnet wo er die Kraft des Willens,
den Triumph des Geistes über die Natur feiert, in seinen Tragö-
dien wie. in seinen Balladen; aber den unbewußt melodischen Aus-
hauch der Seele im schlanken leichten sangbaren Liede oder die
muntere Grazie, das Holdselige unbefangener Weiblichkeit vermissen
wir ebenso sehr in seinen Werken als wir es bei Goethe bewun-
dern. Ja wir können es Hillebrand zugeben daß uns bei Schiller
häufig der Kämpf mit der Form und die Anstrengung sichtbar
werde, daß seine Werke deshalb auch mehr oder minder das Ge-
präge des Errungenen und Znsammengepreßten tragen, während
die Goethe's in unnachahmlicher Gefälligkeit sich vor unserm Blick
auseinanderlegen und mit der heitern frischen Miene der Naivetät
vor uns hintreten. Aber wir müssen festhalten daß Schiller jene
lebendige Quelle mit den reichen vollen Strahlen in sich fühlt, von
welcher Lessing so schön geredet; doch sein Geist muß die Stunden
der künstlerischen Thätigkeit einem kranken krampfgequälten Körper
abringen, und dem Dichter ist seine Kunst kein Spiel, sondern eine
ernste Lebensaufgabe, kein sybaritischer Selbstgenuß, sondern eine
Arbeit im Dienste Gottes und der Menschen, und wenn nun die
Noth des Leibes den Quell des Geistes hemmt, dann ist er der
Dichter durch die Macht des Willens, dann setzt er jene Lessing'-
schen Druckwerke und Röhren an, und gibt sein bestes Herzblut
willig hin. Ehre ihm!
Da ist Goethe's Dichten freilich viel läßlicher und leichter, er
 
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