Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Carrière, Moriz
Die Kunst im Zusammenhang der Culturentwickelung und die Ideale der Menschheit: [ein Beitrag zur Geschichte des menschlichen Geistes] (Band 5): Das Weltalter des Geistes im Aufgange, Literatur und Kunst im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert — Leipzig, 1874

DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.33539#0378

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
356

Goethe und Schiller.

Reiche sich zwecklos bewegen, er sieht die unauflöslichen Räthsel
der Misverständuisse, denen ost nur eiu einsilbiges Wort zur Ent-
wickelung fehlt, unsäglich verderbliche Verwirrungen verursachen.
Er fühlt das Traurige uud das Freudige jedes Meuscheuschicksals
mit. Weuu der Weltmensch in abzehrender Melancholie über großen
Verlust seine Tage hinschleicht, oder in ausgelassener Freude seinem
Schicksal entgegengeht, so schreitet die empfängliche leichtbewegliche
Seele des Dichters wie die wandelnde Sonne von Nacht zu Tag
fort, uud mit leisen Uebergängen stimmt seine Harfe zu Freude
uud Leid. Eingeboren auf dem Grunde seines Herzens wächst die
schöne Blume der Weisheit hervor, und wenn die Andern wachend
träumen und von Ungeheuern Vorstellungen ans allen ihren Sinnen
geängstigt werden, so lebt er den Traum feiues Lebens als ein
Wachender, und das Seltenste was geschieht ist ihm zugleich Ver-
gangenheit uud Zukunft. Und so ist der Dichter zugleich Lehrer,
Wahrsager, Freund der Götter und der Menschen. Der Held
lauscht seinen Gesängen und der Ueberwinder der Welt huldigt
einem Dichter, weil er fühlt daß ohne diesen sein ungeheueres Da-
sein nur wie ein Sturmwind vorüberfahren würde; der Liebende
wünscht sein Verlangen und seinen Genuß so tausendfach und so
harnionisch zu fühlen als ihn die beseelte Lippe zu schildern ver-
stand."
Von Wilhelm Meistens Lehrjahren hat Hillebraud treffend
bemerkt daß sie die Summe der Strebungen und Richtungen der
menschlichen Gesellschaft während des 18. Jahrhunderts in poetischen
Ziffern darstellen, daß hier der Mensch lerne Mensch zu werden.
Friedrich Schlegel, der den Roman eingehend würdigte, that in
paradoxer Form den Ausspruch: Fichte'S Wisseuschaftslehre, die
Französische Revolution und Goethe's Wilhelm Meister seien die
drei größten Tendenzen des Jahrhunderts; — sind diese Tendenzen
doch die Selbstherrlichkeit des denkenden Geistes, die staatsbürger-
liche Freiheit, die harmonische Bildung der Persönlichkeit und der
Gesellschaft in der Einigung von Leben und Kunst. Nieolai nannte
dagegen auch nicht übel Friedrich den Großen, die Kartoffeln, die
nordamerikanischen Freistaaten, also Aufklärung, Volkswohl, Frei
heit; mir daß da die Poesie zu kurz kommt.
In Hermann und Dorothea sollte die idyllische Anlage ein
Ereigniß, das sich zu Altmühl im Oettingischen mit answanderndeu
salzbnrger Protestanten begeben, zu einem Seitenstück der Luise von
Voß machen; aber es erwuchs daraus eiu echtes Epos, der Herr
 
Annotationen