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Almanach 1926

Der junge Tolstoj hat viel von Rousseau gelernt, aber
nicht das Schwärmen, und selbst eine Natur, braucht er
nicht zur Natur zurückzukehren. Er wurde der große
Epiker, weil er mehr als alle anderen Volk ist, weil er
wie die alten Erzähler von vornherein und selbstverständ-
lich einen Maßstab hat. Aus seinem Werk enthüllt sich all-
mählich und unabsichtlich, daß der Maßstab des Menschen
Sohn ist, und man braucht seine frühesten, noch nicht
völlig unabhängigenVersuche nicht auszuschließen, um
seiner gesamten Schöpfung den Titel einer „Messiade“
zu geben. Sie ist die uns noch erlebbarste von allen,
die wir haben, obgleich sie keinen Himmel baut
und kein verlorenes Paradies zurückweint. Diese christ-
liche Epopöe hat gar keine Mythologie, sie hat soviel
Gegenwart, sinnliche Anschauung und seelischeBeständig-
keit, wie etwa ein Passionsspiel des Mittelalters, das die
Leiden des Herrn und seine Auferstehung nicht nur in
Erinnerung brachte, sondern immer wieder von neuem
geschehen ließ. Nehmen wir seinen Pierre in „Krieg und
Frieden4 , seinen Lewin in „Anna Karenina“, seinen
Nekludow in „Auferstehung“, es sind, unbehilflich und
schwerblütig, die ihm ähnlichsten Menschen, die von der
Zivilisation Unverführten, die zögernd tasten, die ein
kleines Licht in der Finsternis erblicken und es immer
wieder verlieren. Die nach unten gezogen werden ins
Volk, ins einfach Menschliche, ohne für das Volk schwär-
men zu können, weil sie mit denselben Eigenschaften,
mit derselben Unzulänglichkeit und Unzuverlässigkeit zu
ihm gehören. Was ist eines Dichters Weltanschauung,
der nicht begrifflich denken kann? Wir müssen es so ver-
stehen, daß die Welt in seinem Werke sich selbst anschaut,
 
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