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Almanach 1926

übrigbleibt, in der er die Welt verläßt. Wird der Name
Tolstoj genannt, so sehen wir den Mann mit dem Patri-
archenbart, in derTracht eines russischen Bauern, so sehen
wir den Pilger vor seinem letzten Aufbruch. Sein Leben
ist eine Tat.
Wir müssen uns besinnen, daß dieser Herr und Bauer,
dieser Patriarch und Pilger, dieser Bekehrte und Bekehrer
Romane und Novellen geschrieben hat, daß dieser Be-
kenner, der dem Zaren, „seinem lieben Bruder“, Vor-
schriften machen durfte, durch literarische Leistungen
berühmt und einflußreich geworden ist, die zunächst das
Entzücken der russischen Gesellschaft erweckten. Tolstoj
wird besonders neben Turgenjew als der erste russische
Schriftsteller empfunden, der dem Abendland nichts zu
verdanken hat, dessen Kunst von den Resten der euro-
päischen Romantik, dessen Gesinnung von dem westlichen
Liberalismus keine Vorschriften empfängt. Der russische
Mensch unter dem russischen Himmel ist sein Objekt, von
zorniger Liebe gestaltet, von der Liebe, die sich selbst im
Bruder nicht schont, aber von keiner Sentimentalität be-
schönigt, von keiner Karikatur beeinträchtigt. Sein Werk
hat keine Ironie. Der Erzähler Tolstoj steht in seiner
Welt wie Homer in der der antiken, wie der Sänger des
Nibelungenliedes in der des mittelalterlichen Rittertums.
Die Werke aller modernen Erzähler, nehmen wir die
klaren französischen Typen der Balzac, Flaubert, Zola,
scheinen neben den seinen am Schreibtisch und aus Papier
entstanden ;derLiterat hat sich vorgenommen,das moderne
Dasein längs und quer in Ausschnitte zu teilen und durch
und durch zu redigieren. Wenn Balzac, von seinem un-
geheuren Unternehmen begeistert, den Plan zur mensch-
 
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