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Christliches Kunstblatt für Kirche, Schule u. Haus — [1].1858

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https://doi.org/10.11588/diglit.22171#0016
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nannten diese die Bibel der Analphabeten, weil die, welche nicht lesen konnten,
durch sie den Jnhalt der Schrift erlernten; sie sühren Beispiele an, daß ver-
härtete Snnder, bei denen das Wort seinen Dienst versagte, durch den Anblick
der Bilder tief erschüttert und bekehrt wurden. Später hatte sich das Blatt
gewendet; aus den reformirten Kirchen wurde die Kunst verwiesen, puritaniscker
Eiser hätte sie gern ganz abgeschasst. Tie Vcrtreter der hentigen evangeiischen
Kirche scheinen in ihrer Mehrzahl wiederum anders zu denken; auf jedem Kir-
chentage votiren sie den Bemühungen für Wiederbelebung der kirchlichenr Kunst
Theilnahme und Zustimmung, aber im Einzelnen thun sie wenig oder nichts,
um das Jnteresse dasür in ihren Gemeinden zu wecken, oder ihre Wirksamkeit
zu erproben. Sie halten sie wie es scheint sür eine unschädliche, vielleicht er-
freuliche Zierde, sie gönnen ihr, wenn sie sich dienstwillig meldet, nicht bloß den
Eintritt, sondern auch ein Wort der Begrüßung, aber sie sühlen sich nicht be-
rufen sie einzuladen, sie heranzuziehen, ihr Mühe nnd Kräste zu widmen.

Jst die Knnst denn wirklich so schwach gcworden, daß sie weder Gnnst noch
Abneigung, sondern nnr Gleichgültigkeit verdient? Oder ist diese Gleichgültig-
keit vielmehr eine Schwäche, die in irgend einer Beschränkung unsercr theologi-
schen Studien oder Praris ihre Wurzel hat? Zu einer erschöpfenden Beant-
wortnng dieser Frage sind weder meine Kräfte noch der Raum dieser Blätter
ausreichend, aber einen Beitrag dazu zn liefern, dars ich versuchen. Wenn ich
anch Vielen längst Bekanntes sage, wird es für Andere nicht überflüssig scin.

Allerdings haben sich Zeit und Kunst geändert. Jene Wunder plötzlicher
Bekehrung, deren sich die mönchischen Maler des zebnten Jahrhunderts rühm-
tcn, werden sich schwerlich wiederholen, wenn auch unsere Künstler mit ihrem
viel höheren Wissen und Köimen die gleiche Glaubenskraft und Jnnigkeit ver-
bänden. Aber dennoch werden äbnliche Ursachen noch immer ähnliche Wirkun-
gen hervorbringen. Analphabeten der Bibel, welche dieselbe, wenn auch nicht
aus Mangel an Buchstabenkenntniß, nicht lesen könncn oder nicht lesen, haben
wir noch in Menge, und auch unter ihnen wird es solche geben, welche eher
durch die unmittelbare, bitdliche Erscheinung als durch das Wort erregt werden.

Allein jedenfalls beruht in dieser direkten Erregung bestimmter Gedanken,
Empfindungen und Ueberzeugungen nicht die einzige, nicht die höchste und eigent-
liche Kraft der Kunst. Eine viel tiefere, nachhaltigere Einwirkung aus die Ge-
müther übt sie uuvermerkt und unwillkürlich, nicht indem sie bedeutsain, sonvern
indem sie als harmloser Schmuck oder als technische Arbeit austritt, als form-
bildende Thätigkeit, in jener Regelung von Ton und Linie, von Zeit und
Raum, von Maaß und Verbältnissen, dic sich nicht auf Gründe, aus absiebtliches
Wollen zurücksühren läßt, die aber wie eine zweite, im Menschen erwachsende
Natur, sich mit der äußeren, ibn umgebenden leise und innig verbindet. Tie
Gesetze der Form, in der Architektnr uud Musik sestgestellt und ausgeprägt, in
den übrigen Künsten weiter ausgebildet und angcwendet, gebn von da in das
Leben über, bestimmen alle Tbätigkeit, mirken aus Geräthe und Tracht ein, geben
der Rede den Tonfall, den Bewegungen das Maaß, den Handlungen ihre äußere
Erscheinuug, dem sittlichen Geiste Richtung unv Voranssetzungen. Sie tureb-
dringen und färben das ganze -Fluidum des socialen Lebens, sie tönen unv
 
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