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lyrischen oder, wenn ich so sagen dars, weiblichen Kunstrichtung, welche das
Gefühl ohne Vermittelung des Gedantens oder doch ohne erhebliche, bewußte
Denkthätigkeit gleichsam nmsikalisch berührt, soll ihr Verdienst nicht abgesprochen
werden. Aber sie bedarf neben sich der ernsteren männlichen Gattung, welche
in die Gegensätze des Gedankens eingeht nnd Ladurch auch dem Gefühle eine
bleibendere Stimmung gibt. Sie hat daher auch,^ selbst in Jtalien, wo ihre
eigentliche Heimath ist, niemals ausschließlich geherrscht oder doch immer nur
sehr kurze Zeit, und man braucht nur Giotto's Namen zu nennen, um zu be-
weisen, mit welcher Gedankentiefe sich auch hier, und zwar in der älteren Kunst,
hohe künstlerische und religiöse Weihe verband. Freilich braucht die ästhetische
Kritik das Wort der Reslexion auch als einen Tadel gewisser Kunstwerke, aber
Lies dann in einem Sinne, welcher wenigstens mit dem Erbaulichen nichts zu
thun hat. Nicht die Tiefe, sondern eine Schwäche des Gedankens ist damit
gemeint, daß nämlich derselbe in dem Künstler nicht zur vollen, mit dem Gefühle
einigen Ueberzeugung geworden, nicht organisch ausgebildet ist, und daher bei
der Ausführung das Flickwerk fremder oder doch nicht nothwendiger Verbindungen
erfordert. Dante's Gedicht ist gedankenvoll, vielleicht allzusehr, aber der Vorwurf
des Reslektirten trisst es nicht im Geringsten; kaum ist je ein anderes Werk
in so majestätischer Ruhe aus der Seele des Künstlers hervorgeflossen. Also
weder die Ansorderung des Erbaulichen noch ihr eigenes Wesen verbietet der
Knnst das Eingehen aus Gedankentiese, und der Verfasser hat vollkommen Recht,
wenn er bei den Bedürfnissen unserer Zeit dies für dringend nothwendig hält.

Ein zweiter Begrisf, durch den der Verfasser sich den Mangel des Erbau-
lichen zu erklären sucht, ist der des Modernen. Er erwägt indessen, daß das,
was man im schlimmen Sinne so nennen könne, heute und zu allen Zeiten
eigentlich mit dem Schlechten und Tadelnswerthen überhaupt zusammensalle
(und daher, süge ich hinzu, besser mit der Angabe des bestimmten Fehlers, als
durch dies unbestimmte Wort bezeichnet werde), daß dagegen zu allen Zeiten
auch ein berechtigtes Modernes bestanden habe. Und damit berührt er dann
wieder eine Schwäche unserer Zeit, welche mit der oben erwähnten znsammen-
hängt. Man betrachtet jetzt leicht die Schönheit nur als eine Eigenschast der
Natur und daher als etwas ein für allemal Gegebenes und Unveränderliches,
während es zwar (wie Las Gute und Wahre) ewig, aber auch unendlich reich
und vielgestaltig ist und für uns nur soweit wirksam und real existirt, als wir
es uns anzueignen, d. h. in die uns nach den geschichtlichen Bedingungen jeder
Zeit gegebene Sprache zu übersetzen vermögen. Die Kunst dars daher nicht
bloß, sondern sie soll in jeder Zeit neu sein; sie ist nur dann kräftig und in
steigender Blüthe, wenn sie Neues zu verkünden oder zu sördern weiß, und hat,
wenn dies nicht an der Zeit ist, nur die Aufgabe, die Ueberlieferung und die
Uebung für die Zukunst zu erhalten. Es versteht sich übrigens von selbst, um
einem Misverständnisse vorzubeugen, daß hier nur von einem Neuen auf dem
Gebiete der Schönheit, nicht von etwas eigentlich Lehrhastem die Rede ist.

Diese Begriffe, die der Verfasser erörtert, führten indessen nicht zu dem,
was er eigentlich beabsichtigte, nämlich den in der That sehr merkwürdigen
 
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