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häufig Darstellungen der Niobiden, welche von den beiden Gottheiten gctödtet
werden. Das spurlose Verschwinden eines Menschen bezeichnet Homer mit der
Wendung: „Die Harpyien raubten ihn hinweg." Das Harpyienmonument von
Xanthos, auf dem geflügelte Ungeheuer Kinder in den Armen halten, die sie ge-
waltsam entführen und doch zugleich zärtlich an sich drücken, kann wohl als das
älteste Beispiel einer Verwerthung des Homerischen Bildes gelten. Wenn somit
dem Dichter der Ruhm gebührt, die erste Anregung und die ästhetische Regel für
solche sinnvolle Darstellung gegeben zu haben, so sind doch die Künstler dabei nicht
stehen geblieben; durch selbständige Erfindungen haben sie den Kreis der Bilder
bedeutend erweitert und ein ganzes Füllhorn poetischer Blumen über die Ruhestätten
der Todten ausgeschüttet.
Das ist nun Alles sehr reizend und verführerisch, und der Knochenmann der
Neuern wird dem gegenüber wenig Beifall finden. Sieht man aber der Sache auf
den Grund, so liegt darin kein wahrer und stichhaltiger Trost gegen die Schrecken
des Todes; es ist mehr ein geistreiches Spiel, ein Verhüllen und Umkleiden des
Furchtbaren, das wohl auf Augenblicke blenden, aber nicht die Zweifel des mensch-
lichen Herzens Hinwegräumen und wahrhafte Beruhigung gewähren kann. Trotzdem
waren die alten Künstler bei ihrem Verfahren im vollsten Rechte. Ihnen, als den
Heiden, die keine Hoffnung haben, blieb nichts Anderes übrig, als durch geistreiche
Tändeleien den furchtbaren Ernst des Todes vergessen zu machen. Aber es wäre
der ärgste Mißgriff, wenn unsere Künstler, wie Lessing es wünscht, ihnen hierin
nachahmten. Die christliche Kunst, die einen höhern Beruf hat, als dem Vergnügen
zu dienen, wird auch den Tod in seiner furchtbaren Majestät darstellen müssen und
können, da sie zur Auflösung der Dissonanz nicht auf geistreiche Einfälle ange-
wiesen ist, sondern die Tröstungen der Religion in ihre Darstellung hincinziehen
kann. Das Wort: „Christus hat dem Tode die Macht genommen," gilt auch für
die Kunst. Damit ist nicht gesagt, daß sie gerade zum Bilde des Knochenmannes
greifen muß; aber noch weit unpassender ist für sie der nackte Genius mit umge-
kehrter Fackel, wie er — auch ein Stück Zopf aus dem vorigen Jahrhundert —
den Eingang des Dessauer Kirchhofs verunziert.
Die besprochenen Vorzüge der christlichen Kunst, die Stärke der altdeutschen
Meister in Allem, was den Ausdruck betrifft — man kann sie unbedenklich als
die größten Physiognomiker betrachten, dazu die große Ausbildung der Technik seit
Erfindung der Oelmalerei, alles dies berechtigt zu der Erwartung, daß ihnen die
Darstellung des körperlichen und Seelenleidens stets in befriedigender Weise geglückt
sein wird. Wenn dies nicht durchweg der Fall ist, wenn vielmehr der Vorwurf
der Rohheit, den wir in seiner Allgemeinheit früher zurückweisen mußten, mehrfach
seine volle Berechtigung hat, so werden wir die Erklärung dieser auffallenden Er-
scheinung in der unglücklichen Wahl des darzustellenden Momentes zu suchen haben.
Eine Untersuchung über diesen Gegenstand wird sich wiederum am vortheilhaftesten
an den Laokoon und an Lessings gleichnamige Schrift anknüpfen lassen.
Leider sind wir hier zu einem Umwege genöthigt. Für die Bestimmung des
Momentes, den der Künstler bei Darstellung des Laokoon gewählt hat, ist es nöthig
zu wissen, ob Laokoon schreiend zu denken sei oder nicht, und in diese Frage haben
neuere Kunstschriftstellcr große Verwirrung gebracht. Während Winckelmann
häufig Darstellungen der Niobiden, welche von den beiden Gottheiten gctödtet
werden. Das spurlose Verschwinden eines Menschen bezeichnet Homer mit der
Wendung: „Die Harpyien raubten ihn hinweg." Das Harpyienmonument von
Xanthos, auf dem geflügelte Ungeheuer Kinder in den Armen halten, die sie ge-
waltsam entführen und doch zugleich zärtlich an sich drücken, kann wohl als das
älteste Beispiel einer Verwerthung des Homerischen Bildes gelten. Wenn somit
dem Dichter der Ruhm gebührt, die erste Anregung und die ästhetische Regel für
solche sinnvolle Darstellung gegeben zu haben, so sind doch die Künstler dabei nicht
stehen geblieben; durch selbständige Erfindungen haben sie den Kreis der Bilder
bedeutend erweitert und ein ganzes Füllhorn poetischer Blumen über die Ruhestätten
der Todten ausgeschüttet.
Das ist nun Alles sehr reizend und verführerisch, und der Knochenmann der
Neuern wird dem gegenüber wenig Beifall finden. Sieht man aber der Sache auf
den Grund, so liegt darin kein wahrer und stichhaltiger Trost gegen die Schrecken
des Todes; es ist mehr ein geistreiches Spiel, ein Verhüllen und Umkleiden des
Furchtbaren, das wohl auf Augenblicke blenden, aber nicht die Zweifel des mensch-
lichen Herzens Hinwegräumen und wahrhafte Beruhigung gewähren kann. Trotzdem
waren die alten Künstler bei ihrem Verfahren im vollsten Rechte. Ihnen, als den
Heiden, die keine Hoffnung haben, blieb nichts Anderes übrig, als durch geistreiche
Tändeleien den furchtbaren Ernst des Todes vergessen zu machen. Aber es wäre
der ärgste Mißgriff, wenn unsere Künstler, wie Lessing es wünscht, ihnen hierin
nachahmten. Die christliche Kunst, die einen höhern Beruf hat, als dem Vergnügen
zu dienen, wird auch den Tod in seiner furchtbaren Majestät darstellen müssen und
können, da sie zur Auflösung der Dissonanz nicht auf geistreiche Einfälle ange-
wiesen ist, sondern die Tröstungen der Religion in ihre Darstellung hincinziehen
kann. Das Wort: „Christus hat dem Tode die Macht genommen," gilt auch für
die Kunst. Damit ist nicht gesagt, daß sie gerade zum Bilde des Knochenmannes
greifen muß; aber noch weit unpassender ist für sie der nackte Genius mit umge-
kehrter Fackel, wie er — auch ein Stück Zopf aus dem vorigen Jahrhundert —
den Eingang des Dessauer Kirchhofs verunziert.
Die besprochenen Vorzüge der christlichen Kunst, die Stärke der altdeutschen
Meister in Allem, was den Ausdruck betrifft — man kann sie unbedenklich als
die größten Physiognomiker betrachten, dazu die große Ausbildung der Technik seit
Erfindung der Oelmalerei, alles dies berechtigt zu der Erwartung, daß ihnen die
Darstellung des körperlichen und Seelenleidens stets in befriedigender Weise geglückt
sein wird. Wenn dies nicht durchweg der Fall ist, wenn vielmehr der Vorwurf
der Rohheit, den wir in seiner Allgemeinheit früher zurückweisen mußten, mehrfach
seine volle Berechtigung hat, so werden wir die Erklärung dieser auffallenden Er-
scheinung in der unglücklichen Wahl des darzustellenden Momentes zu suchen haben.
Eine Untersuchung über diesen Gegenstand wird sich wiederum am vortheilhaftesten
an den Laokoon und an Lessings gleichnamige Schrift anknüpfen lassen.
Leider sind wir hier zu einem Umwege genöthigt. Für die Bestimmung des
Momentes, den der Künstler bei Darstellung des Laokoon gewählt hat, ist es nöthig
zu wissen, ob Laokoon schreiend zu denken sei oder nicht, und in diese Frage haben
neuere Kunstschriftstellcr große Verwirrung gebracht. Während Winckelmann