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Christliches Kunstblatt für Kirche, Schule u. Haus — 27.1885

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Nr. 9 (1. September 1885)
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https://doi.org/10.11588/diglit.44537#0140
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Auf die neueren Verhandlungen über Ausdruck und Bedeutung der einzelnen
Figuren und Bewegungen nimmt der Verfasser keinen nähern Bezug, nicht einmal
auf Göthe, nicht auf Bischof Hefele, nicht auf Förster, Lübke, Dalton, auch nicht
auf unsere Abhandlung im Christi. Kunstblatt (1880 Nro. 4.). Um so begieriger
sind wir auf das Eigene und Neue, das er giebt.
Den gewaltigen Fortschritt der Leonardo'schen Komposition gegenüber den
Vorgängern findet er mit Recht darin, daß die feierliche, ruhige Darstellung der
alten Künstler zur Wahrheit des Lebens, die herkömmliche Anordnung der Apostel
an langer Tafel mit Aussonderung des Judas zu malerischer Gruppierung er-
hoben ist. Durch diese Neuerung ist die unvergleichliche Gruppe: Petrus,
Johannes und Judas möglich geworden, „in der das harte Profil des Judas,
schattig und mächtig von dem leuchtenden, feurigen Greisenkopf des leidenschaft-
lichen Petrus sich absetzt, während die ganze Gestalt, krampfhaft den Beutel
umfassend, vor dem Herrn in Nacht zurückzuweichen scheint, indes alle übrigen
zu ihm hinstreben als zu ihrem geistigen Mittelpunkte." Sehr beachtenswert
ist, wie Leonardo gerade den Lieblingsjünger sich von seinem, nach entgegengesetzter
Richtung sich neigenden geliebten Herrn Hinwegneigen läßt in vollem Gegensatz
zu den herkömmlichen Darstellungen, welche den neben Jesus sitzenden Jo-
hannes an die Brust Jesu sich anlehnen lassen, was nur dem nach alter Sitte
auf dem Polster neben Jesus liegenden Jünger möglich war. Vielleicht hat der
Maler in dieser Haltung des Lieblingsjüngers andeuten wollen, daß dieser am
entferntesten war von der Unthat, welche der Herr in diesem Augenblick den er-
schreckten Jüngern angezeigt hat mit dem Wort: „Einer unter euch wird mich
verraten." Daß Jesus selber mit dem Haupte, das übrigens im Urbilde nicht
so stark geneigt ist, als in Raphael Morghens Stich, sich von des Verräters
Seite wegneigt, ist gewiß ein höchst feiner Fund des Künstlers.
Was war nun aber der Grundgedanke der ganzen Anordnung in Leonardos
Gemälde? Übersieht man, daß die Jünger nach dem Evangelium Jo-
hannis 13, 22. 28. nicht wußten, noch ahnten, von wem Jesus rede,
so kommt die Erklärung des Einzelnen auf falsche Fährte. Würde Leonardo das
Haupt des Herrn, um den es sich bei Erklärung des Gemäldes, dessen Mittel-
punkt er ist, in erster Linie handelt, sich rechtshin geneigt haben, so wäre das
ein allzu vernehmlicher Wink auf Judas hin. Einen solchen aber wollte Jesus
bei seiner ersten allgemeinen Anzeige des Verräters nicht geben. Kann dafür
„die Bewegung der rechten Hand Jesu als eine Hinweisung auf den Verräter"
genommen werden? Schwerlich. Denn ein Hinzeigen, auch nur ein Hinneigen
zu Judas war gegen die Absicht des Herrn in jenem Augenblicke. Er will ja
den Judas noch nicht bloßstellcn, das gesprochene Wort sollte ein letzter Versuch
sein, das Gewissen desselben zu erregen und „das verlorne Kind" zur noch
möglichen Umkehr zu bewegen. Was liegt nun in der Handbewegung? Sie
zeigt, welche heftige Spannung im Herzen Jesu augenblicklich ist. Mit der ge-
öffneten Linken begleitet er die ihm so peinliche Eröffnung des schmerzlichen
Geheimnisses an die Versammelten, er legt mit dieser Hand einstweilen nur offen
dar, daß einer von den Anwesenden ihn verraten wird, ohne anzuzeigen, wer
 
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