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Christliches Kunstblatt für Kirche, Schule u. Haus — 51.1909

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Nr. 4 (April 1909)
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https://doi.org/10.11588/diglit.44121#0125
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einstimmend wissen Lomazzo, der Kopist von Ponte Capriasca und Vespino
nichts von ihr, während sie in der Freske aus Castellazzo und in den Tafel-
kopien des Oggionno und Cesare enthalten ist."* Die Erinnerung an diese
Hand blieb aber in der ersten Zeit nach ihrem Verschwinden auf dem Ori-
ginal, und daher wurde sie von den älteren Kopisten neben der Linken des
Jakobus des Aelteren in etwas roher Modellierung weitergeführt. Doch vor
der Lücke des Urbildes geriet der anfängliche Verhalt bald in Vergessenheit'
und nach 1350 fehlt die linke Hand des Thomas auf allen späteren Kopien.**
Obwohl diese interessante historische Erklärung viel für sich hat und
ernste Beachtung verdient, lassen mir doch einige ästhetische Gründe die Autor-
schaft Lionardos für diese Thomashand überaus bedenklich erscheinen. Die
unsichere und gezwungene Haltung der Hand auf den Kopien haben wir
schon geschildert. Und aus ihrer Betrachtung kann man sich von der Linken
des Thomas auch in der originalen Lage unter der linken Hand des Jakobus
des Aelteren, wohin sie Lionardo selbst gemalt haben soll, keine ästhetisch
abgerundete Vorstellung bilden. Jedenfalls wäre auch an dieser Stelle die
Hand zu absoluter Ausdruckslosigkeit verdammt gewesen. In der allgemeinen
bedeutenden Gebärdensprache des Bildes scheidet sie völlig aus, und auch für
den Apostel Thomas selbst bleibt sie ziemlich sinnlos: soll sie ihn in der Auf-
regung vor dem Umfallen bewahren oder will sie ihm an der allzu engen
Tafel krampfhaft seinen Platz reservieren?*** Andere Motive für ihre Existenz
lassen sich schwerlich finden. Dazu kommt als gewichtigster Grund ihre
ästhetische und anatomische Unerträglichkeit; man muß ja den Zusammenhang
zwischen diesen paar Fingern auf dem Tisch und dem Apostel rein in der
Phantasie konstruieren! Von Thomas ist überhaupt nur der Kopf und die
warnende Rechte zu sehen, deren Verknüpfung der bildenden Phantasie schon
eine genügend große Aufgabe stellt. Und dem sollte Lionardo noch ein
drittes ganz wertloses Stück zugefügt haben, ein paar Finger, die er an
weit entlegener Stelle aus dem Dunkel auftauchen läßt? Es ist kaum mög-
lich, dem großen Entdecker und Darsteller des menschlichen Körpers solche
Unnatur zuzutrauen.
So haben wir diese Hand wohl ohne Zweifel als eine Hinzufügung der
Schüler Lionardos zu betrachten. Wie kamen diese aber darauf? Offenbar
durch Schulpedanterie auf Grund ebensolchen Rechenexempels, wie wir es an
den Anfang unserer Untersuchung gestellt haben. Sie zählten die Hände
auf dem Original, fanden ihrer nur 25, vermißten die linke Hand des Thomas
und setzten sie auf ihren Nachbildungen ein, wobei sie wenigstens insofern
dem großen Lehrer gerecht wurden, als sie die Hand an der allein richtigen
Stelle einfügten. Denn das dürfen wir Lionardos Genauigkeit wohl zu-
trauen, daß er die Absicht hatte, alle 26 Hände auf das Bild zu bringen.
Wer weiß, welche Mühe diese linke Hand des Thomas seinem Nachdenken
* Hoerth a. a. O. Anm. 50 und Anm. 10
** Hoerth a. a. O. S. 237, 238, 230
*** Hoerth a. a. O. S. 138
 
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