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Christliches Kunstblatt für Kirche, Schule u. Haus — 51.1909

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Nr. 4 (April 1909)
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https://doi.org/10.11588/diglit.44121#0141
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12Ä
dem Urteil bei der Hand sein: nnwissend, fanatisch, banausisch, verrückt.
Es würde dieses Urteil vielleicht noch viel lauter und häufiger ausgesprochen
werden, wenn es sich um irgendeinen „Dunkelmann" oder „lex-Heinze-
Macher" handeln würde, und nicht um einen, den man sonst selber zu den
Größen der Kunst zu rechnen gewohnt ist. Freilich einseitig, bis die Wahr-
heit sich ins Gegenteil überschlägt, eigensinnig bis zum Unsinn, so ist er ja
überhaupt. Er verfolgt seine religiös-sozialen Ideen bis zu den äußersten
Spitzen und macht vor keinem Götzenbild halt, hieße es also selbst Shake-
speare oder Goethe. Verachtung der Kunst oder niedere Auffassung ihres
Berufs ist es wenigstens nicht, was seinen scharfen Urteilen zugrunde liegt.
Kunst ist ihm die Welt-
sprache der Gefühle, nicht ein
mehr oder weniger feines Ge-
nußmittel, sondern eine der
Grundbedingungen des mensch-
lichen Lebens, das hervor-
ragendste Mittel für die Eini-
gung der Menschen unter-
einander. Wie durch das
schlichte Wort ein Mensch dem
andern seine Gedanken mit-
teilt, so teilen durch die Kunst
die Menschen einander ihre
Gefühle mit. Gefühlsäußerung
ist ansteckend, schon die Aeuße-
rung wirklichen unmittelbaren
Gefühls, Lachen, Weinen und
Gähnen. Die Kunst fängt daun
an, wenn ein Mensch das von
ihm empfundene Gefühl von
neuem in sich hervorruft und, in der Absicht, es anderen mitzuteilen, in Linien,
Tönen,. Bewegungen, Farben, Wortbildern ausdrückt, so daß es die andern
nacherleben müssen. Das einfachste Beispiel ist die lebhafte Erzählung eines
Knaben von der durchlebten Angst eines nächtlichen Gangs vor dem Wolf.
So verstanden durchdringt die Kunst unser ganzes Leben; wir können uns
ohne sie keinen menschlichen Verkehr denken. Sie vermittelt uns das Ge-
fühlsleben aller Zeiten und Weltgegenden und macht erst wahrhaft mensch-
liches Leben, Geistesentwicklung „Kultur" möglich. Es ist eigentlich nur
Willkür, wenn wir einige besondere Aeußerungen davon als „Kunst" im
engeren Sinn des Wortes bezeichnen. Von diesem Boden aus sind die
tzauptanstöße zu verstehen, die Tolstoj zu seinem Verdammungsurteil über
das ganze heutige Kunstgetriebe gebracht haben.
Das ist einmal die berufsmäßige Massenproduktion. Wirkliche Kunst-
werke hervorbringen kann nur, wer selber wirklich fühlt und aus innerstem

Bihl L Woltz Friedhofkapelle Waiblingen
 
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