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Die Scheu vor gleich ſelbſtändigen Wegen, das zu beharrliche Hangen
am Alten der Form haben die Stagnation der modernen Bildhauerkunſt
Italiens veranlaßt. Erſt in neueſter Zeit beginnt sich gesundes Gegenwarts-
empfinden hier Bahn zu brechen; in der weltlichen Kunſt hat Pietro Cano-
nica, in der chriſtlichen Ludovico Biſstolfi die Gesetze moderner Plaſtik end-
lich auch für Ftalien zur Geltung gebracht. Unter ſchweren Kämpfen,
angeseindel und zuerſt wenig goutiert, haben dieſe beiden größten Plastiker
des gegenwärtigen Italien es doch noch erlebt, daß ihre Namen die führenden
wurden und daß man von ihnen ab eine neue Aufwärtsbewegung italieni-
ſcher Plaſtik nach langem Stillstande datieren darf.
Ludovico Biſtolfi, heute ein alternder Mann, dessen Namen erſt langſam
über die Grenzen seines Heimatlandes hinaus zu tönen beginnt, gilt unter
den Kunſtverſtändigen Ftaliens bereits des längeren als der Erlöser chriſt-
licher Kunst aus banal gewordener Formalität, als der Schöpfer einer neuen
Aera. Erſt allmählich gelangte auch er zur Anerkennung, und wenn es ihm
heute an Denkmalsaufträgen keineswegs fehlt, ſo hat dieſe lange genug
' 'die begierige Kraft des jungen Schaffenden um do ſchmerzlicher vermissen
müssen. ,
Auch er iſt zunächſt aus den Kreisen der offiziellen italieniſchen Grabbild-
hauer hervorgegangen, und wir finden auf den italieniſchen Friedhöfen
noch genug Arbeiten aus seinex Frühzeit, die man als richtige Campoſanto-
Arbeit mit all ihren künſtleriſchen Gebrechen bezeichnen muß. Mit der
Erstarkung der bildhaueriſchen Technik gehen indessen bei Biſtolfi eine Er-
starkung des Persönlich-Schöpferiſchen und eine Geschmacksläuterung Hand
in Hand, die unter italieniſchen Bildhauern ganz eigentümlich wirken. Sein
Auge erkennt das Überflüssige + o Wundert — die Hand betont es nicht
in geiſtreich ſpielender Weise, sondern sie ſcheidet es aus. Der Ausdruck der
chriſtlichen Plaſtik im Mittelalter war die Geſte. In der Friedhofsbildhauerei
iſt dann in einseitigem Verfolg des Gegebenen ein Pathos geworden, das
unbedingt den größten Teil dieser Grabdenkmäler der Natürlichkeit erman-
geln läßt und ihnen ein theatraliſches, dem ſchlichten Geiſte der chriſtlichen
Kunst nicht mehr entsprechendes, im Empfinden weniger als im Techniſchen
wurzelndes Aussehen verleiht. Die neue Kunst ſcheut davor zurück, alle Gewalt
des Gefühls in eine Geſte zu legen und den übrigen Körper in erhabener Ruhe
beharren zu lassen. Sie empfindet das als unwahr. Sie hat pſychologiſch richtig
erkannt, daß ein Gefühl, eine Empfindung den ganzen Körper überlaufen
und modeln, und die chriſtliche Plaſtik der Gegenwart behandelt darum
den ganzen Körper der Wahrheit gemäß und in ſtrengſter Berücksichtigung
seiner anatomischen Struktur als Ausdruck dieſer Empfindung. Hier wären
etwa als klassiſche Beiſpiele Bartholomés wunderbares „Monument aux morts“
zu Paris, die Werke Repins, die engliſchen Praeraphaeliten, die. deutſche
. moderne Plaſtik und nicht in letzter Linie Ludovico Biſtolfi zu nennen.
Bistolfi iſt kein Revolutionär. Er stammt aus der alten Tradition und
leugnet das in keiner seiner Schöpfungen. Aber er hat von den Fort-
Die Scheu vor gleich ſelbſtändigen Wegen, das zu beharrliche Hangen
am Alten der Form haben die Stagnation der modernen Bildhauerkunſt
Italiens veranlaßt. Erſt in neueſter Zeit beginnt sich gesundes Gegenwarts-
empfinden hier Bahn zu brechen; in der weltlichen Kunſt hat Pietro Cano-
nica, in der chriſtlichen Ludovico Biſstolfi die Gesetze moderner Plaſtik end-
lich auch für Ftalien zur Geltung gebracht. Unter ſchweren Kämpfen,
angeseindel und zuerſt wenig goutiert, haben dieſe beiden größten Plastiker
des gegenwärtigen Italien es doch noch erlebt, daß ihre Namen die führenden
wurden und daß man von ihnen ab eine neue Aufwärtsbewegung italieni-
ſcher Plaſtik nach langem Stillstande datieren darf.
Ludovico Biſtolfi, heute ein alternder Mann, dessen Namen erſt langſam
über die Grenzen seines Heimatlandes hinaus zu tönen beginnt, gilt unter
den Kunſtverſtändigen Ftaliens bereits des längeren als der Erlöser chriſt-
licher Kunst aus banal gewordener Formalität, als der Schöpfer einer neuen
Aera. Erſt allmählich gelangte auch er zur Anerkennung, und wenn es ihm
heute an Denkmalsaufträgen keineswegs fehlt, ſo hat dieſe lange genug
' 'die begierige Kraft des jungen Schaffenden um do ſchmerzlicher vermissen
müssen. ,
Auch er iſt zunächſt aus den Kreisen der offiziellen italieniſchen Grabbild-
hauer hervorgegangen, und wir finden auf den italieniſchen Friedhöfen
noch genug Arbeiten aus seinex Frühzeit, die man als richtige Campoſanto-
Arbeit mit all ihren künſtleriſchen Gebrechen bezeichnen muß. Mit der
Erstarkung der bildhaueriſchen Technik gehen indessen bei Biſtolfi eine Er-
starkung des Persönlich-Schöpferiſchen und eine Geschmacksläuterung Hand
in Hand, die unter italieniſchen Bildhauern ganz eigentümlich wirken. Sein
Auge erkennt das Überflüssige + o Wundert — die Hand betont es nicht
in geiſtreich ſpielender Weise, sondern sie ſcheidet es aus. Der Ausdruck der
chriſtlichen Plaſtik im Mittelalter war die Geſte. In der Friedhofsbildhauerei
iſt dann in einseitigem Verfolg des Gegebenen ein Pathos geworden, das
unbedingt den größten Teil dieser Grabdenkmäler der Natürlichkeit erman-
geln läßt und ihnen ein theatraliſches, dem ſchlichten Geiſte der chriſtlichen
Kunst nicht mehr entsprechendes, im Empfinden weniger als im Techniſchen
wurzelndes Aussehen verleiht. Die neue Kunst ſcheut davor zurück, alle Gewalt
des Gefühls in eine Geſte zu legen und den übrigen Körper in erhabener Ruhe
beharren zu lassen. Sie empfindet das als unwahr. Sie hat pſychologiſch richtig
erkannt, daß ein Gefühl, eine Empfindung den ganzen Körper überlaufen
und modeln, und die chriſtliche Plaſtik der Gegenwart behandelt darum
den ganzen Körper der Wahrheit gemäß und in ſtrengſter Berücksichtigung
seiner anatomischen Struktur als Ausdruck dieſer Empfindung. Hier wären
etwa als klassiſche Beiſpiele Bartholomés wunderbares „Monument aux morts“
zu Paris, die Werke Repins, die engliſchen Praeraphaeliten, die. deutſche
. moderne Plaſtik und nicht in letzter Linie Ludovico Biſtolfi zu nennen.
Bistolfi iſt kein Revolutionär. Er stammt aus der alten Tradition und
leugnet das in keiner seiner Schöpfungen. Aber er hat von den Fort-